Die Glocken

11 Apr

Ich bin Anfang 20, als ich 2004 zum ersten Mal nach Israel fliege. Ein Austausch, organisiert von meinem Vater. Vor dem Abflug Gebet in der Kirche, der Bus steht schon mit offenen Türen auf dem Gemeindeparkplatz. Am Tag des Rückflugs plötzlich ein Alarm auf dem Flughafen Ben Gurion.  Lautsprecherdurchsagen auf Hebräisch. Menschen, die in Panik rausrennen. Dann Entwarnung. Mir zittrigen Händen zeige ich die Pässe der Reisegruppe, übersetze wie in Trance. Zwei Flüge und einer lange Busfahrt später erreichen wir unsere Stadt und aus dem Schreck ist schon eine story geworden. Der Bus parkt, als wäre nichts gewesen. Als wir aussteigen, beginnen plötzlich die Glocken zu läuten. Sie läuten über den verlassenen Kirchplatz, vibrieren durch menschenleere Straßen. Glocken in einer leeren Kirche – sie läuten nur für uns. Für das, was wir erlebt haben. Dafür, dass wir leben. Nie werde ich diesen Moment vergessen. Die Erleichterung, die Freude: Alles ist gut gegangen. Die neu geweckte Lust auf Abenteuer: Was würde mein Leben mir bringen? Die Zuversicht der Jugend: eine wahnsinnige Menge, und zwar frei Haus.

Seit der verfrühten Geburt meiner Tochter zwei Monate vor Beginn der sogenannten Corona-Krise wasche ich mir pausenlos die Hände. Wer zwei Kinder wickelt, kommt auch ohne Kontakt zur Außenwelt auf eine ganz schöne Anzahl. Ich wasche brav 30 Sekunden lang und weil ich nicht gern happy birthday singe, gönne ich in diesen kleinen Pausen lieber ein Gedankennachhängen. In 30 Sekunden kann man so einiges denken, oder andenken und dann wegpacken fürs spätere Weiternachhängen.

  • Mag eigentlich irgendjemand Hirse oder ist das nur so ein Ding, wo sich keiner traut was zu sagen? Wie meine Mutter, die eine Zeit lang zu jeder Gelegenheit losen Tee und diese furchtbaren Dekokerzen im Glas geschenkt bekam. Sie hatte den Moment verpasst zu sagen, dass sie sich weder Tee noch Kerzen als Teil ihres Alltags wünschte –  und weil der Kram höflich überall herumstand, dachte jede: Hey, Ulla ist doch so ein Fan von Tee und Kerzen im Glas.
  • Skandinavien alleine hat zu viele Reiseländer, als dass ich sie je alle sehen werde. Wahrscheinlich. Kann das wirklich sein, dass Leute sterben, dass ich sterben werde, ohne die Nordlichter gesehen zu haben?
  • Wieso rühren mich Publikumsmassen bei Konzerten im youtube Video zu Tränen, aber im echten Leben würde ich niemals auf ein Konzert gehen, weil da so viele Leute sind?
  • Wenn ich einmal alles addieren würde, was ich laut diversen Ratgebern täglich machen sollte – Zupfmassage gegen Cellulite, 100 Bürstenstriche, Arbeit, Rückengymnastik, lesen, frisch kochen, mit Kindern reden, Meditation, mit Familie telefonieren, einfach mal nichts tun, vorlesen, Sport, Zeitung lesen………………………………………) käme ich dann auf mehr als 24 Stunden? Und werde ich je die Zeit haben, das zu recherchieren?
  • Wenn alle Erwachsenen wissen, dass wir nur einmal leben, warum bleiben dann alle so ruhig? Was ist das für ein Moment, in dem sich der Schalte umlegt und von dem an wir nur noch 10 Prozent des Möglichen ins Betracht ziehen? Ist er der, in dem wir erfahren, was Dinge kosten?

Nach dem Händewaschen mehr Fragen als Antworten. Mehr Sorge als Sicherheit. Sowieso quälen ich mich dieser Tage Fragen und Sorgen.

Seit vier Wochen lebe ich ein Klischee – und meinen persönlichen Alptraum: Ich bin stay-at-home-Mom zweier Kinder. Und all die Schrullen, die ich seit meiner ersten Elternzeit nicht mehr loswerde, verstärken sich ins Unendliche. Ich backe ununterbrochen – und dann auch noch mit Dinkelvollkornmehl. Ich plane schon morgens um acht, wann Abendbrot gegessen wird. Ich esse Abendbrot, und zwar richtig gut deutsch um 18 Uhr: Gewürzgurken. Käse auf einem schönen Brett angerichtet. Möhre angeschrägt. Ich ertappe mich dabei, Phrasen zu benutzen, die ich von der Generation meiner Eltern kenne. “Sind sie nicht süß, wenn sie schlafen?” zum Mann. “Haben wir es gut” zum Kind beim  Essen. “Alter Schwede,” zu Freunden in WhatsApp Sprachnachrichten. Ich habe mehr Ideen, Vorhaben, Projekte als je zuvor – und keine Zeit, sie in die Tat umzusetzen. Ich bin eine Macherin ohne die Macht zu machen, ein Oktopus in Handschellen. Alles, was ich mache sind Knete, Fingerfarbe, Stress, mir ein schlechtes Gewissen.

Am Gründonnerstag gehe ich abends zum Supermarkt. Tagelange Vorfreude. Ich gehe alleine, so der Plan, wenn die Kinder schlafen. Ich werde auf dem Hinweg Musik hören oder einen Podcast. Und nichts mit Kindern. Ich werde mir eine Weglimo oder ein Wegbier kaufen (alkoholfrei) und auf dem Heimweg die Vögel singen hören. Als es soweit ist, beschließt das Tochterkind mit weit aufgerissenen blauen Augen, dass es auch mal vor die Tür muss. Also nur Vögel, von mir aus. Entgegen meiner naiven Hoffnung ist es nicht leer im Supermarkt um 20 Uhr am Gründonnerstag. Vor der Tür eine Schlange, ein grimmiger Security-Mann genießt sichtlich seine Macht. Alle tragen Masken, ich schäme mich, dass ich keine habe, das Baby ist ebenfalls maskenlos. Drinnen gespannte Stimmung. Keiner rennt aber alle wirken so, als würden sie gern. Das Gemüseregal leer, Toast auch aus. Eier stehen zum Glück schon daheim im Kühlschrank, mit Paketband verschnürt wegen Schlafmangel. Ich merke, wie die Stimmung mir so ganz ohne The Comedy Central Roast of James Franco auf den Ohren unter die Haut kriecht. Auf einmal frage ich mich, ob es jetzt fahrlässig ist, ein Baby mit zum Einkaufen zu nehmen. Die leeren Regale machen mich nervös. Ich bin ja bekennende Hypochonderin und das gilt offenbar auch für drohendes Abgehängtwerden bei der Bevorratung. Jedenfalls gibt es kein Mehl mehr, nicht mal Dinkelvollkorn, und eine Welt, in der es kein Mehl zu kaufen gibt, macht mich unruhig – egal wie viele aus Mehl hergestellte Waren noch im Regal liegen. Das ist ja alles wirklich echt. Das ist ja alles doch recht verstörend.

Ich atme im wahrsten Sinne des Wortes auf, als wir aus dem Supermarkt auf die Straße treten. Und dann, im selben Moment, ganz ungelogen, beginnen die Glocken meiner Berliner Kirche zu läuten. Sie steht die Straße hoch, eine große alte leere Kirche neben einem kleinen alten leeren Kino. Ihre Türme sind riesig und aus unerklärlichen Gründen direkt an Mietshäuser gebaut. Ich komme nicht mehr oft her, was aber okay ist, denn ich habe Kinder. Mein Sohn wurde hier getauft und in der Woche vor dem Tod meiner Mutter habe ich hier einen kleinen weißen Zettel in den Fürbittenkasten geworfen: “Bitte beten Sie für meine Mutter, ich glaube, sie liegt im Sterben.”

Damals war mein Sohn drei Monate, so alt wie heute meine Tochter und ich war genauso abgekämpft – ganz ohne Corona. Persönlich habe ich den Eindruck, dass die aktuelle Situation in Familien nur das verstärkt, das sowieso schon viele herausfordert. Soziale Isolation, ein Gefühl der Ohnmacht ob der unsicheren Zukunft. Sorge, Hoffnung. Lagerkoller. Und eine Verstärkung von Privilegien oder deren Abwesenheit. Plötzlich macht es einen riesigen Unterschied, ob ein Auto da ist oder gar ein Garten. Aber klar, es ist eine harte Zeit, weil etwas fehlt, dass gerade Mütter gut gebrauchen können: Austausch und Solidarität. So empfinde ich es jedenfalls. Einmal treffe ich morgens im Park eine andere Mutter mit ihrem Sohn, wir kennen uns aus der Babymassage. Beide haben wir die Bälger dabei, morgens früh, wenn nur die alten grummigen Männer mit ihren Hunden unterwegs sind. Ich erzähle vom Baby. Von der Eifersucht des Brummbären, vom In-der-Mitte-durchgerissen-werden, jeden Tag. “Ich kann dir E. ja mal abnehmen,” sagt sie. Und dann: “Ach ne, geht ja nicht.” Aber auch theoretische Solidarität nehme ich dieser Tage, und zwar gern. Der Rest des Tages ist irgendwie leicht zu ertragen nach diesem kurzen Gespräch über Bänke hinweg.

Manchmal frage ich mich, ob es allen Frauen so schwer fällt, sich gegen das Muttersein selbstzuverteidigen oder ob es familiär bedingt ist. Meine Schwester beneidet die Leute im Corona-Hotel auf Teneriffa und ich halte mir ständig die Ohren zu und singe Neil Youngs “Heart of Gold”, um nicht laut zu schreien. Man kann nämlich nicht “Heart of Gold” singen und dabei aggressiv sein. Leider schreie ich trotzdem, die Wand an und manchmal auch das Kind. Wenn es dann abends schläft, winzig unter seiner großen Decke, schäme ich mich.

Und dann, wenn ich mich das frage, denke ich oft, dass das, was ich sein soll und auch sein will, gar nicht geht. Und dass ich das schon längst weiß – und auch sonst jeder. Arbeitende Mutter zweier Kinder mit ETF Sparplan und funktionierender Beziehung (Liebe ist Arbeit, Arbeit, Arbeit). Ich versuche es ja und ich putze nicht und ich will mir ja auch die Care-Arbeit aufteilen aber irgendwie will ich mich auch immer kümmern und dass es allen so gut geht wie es nur geht und das macht mich müde und mürbe und ein schüchternes Stimmchen in mir drin sagt mir, dass das mit dem Kümmern nicht meine Schuld ist. Man nennt es Sozialisation. Und dann denke ich, dass ich das mal reflektieren muss und auch sein lassen, aber heute nicht, denn ich bin müde und schaue lieber noch eine Folge von irgendwas und ab ins Bett mit Harry Potter Hörbuch. Morgen kümmere ich mich darum, bestimmt.

Ich stehe also vor dem Supermarkt mit dem Baby vor dem Bauch und dem Einkauf in den Händen und die Glocken läuten. Glocken in einer leeren Kirche – sie läuten für eine verunsicherte Stadt und gleichzeitig nur für mich allein. Und ich breche in Tränen aus, an der roten Ampel vor dem Rewe, umgeben von Maskierten. Das letzte Mal, als ich diese Glocken gehört habe, war ich mit dem Brummbären unterwegs zur Kita – vier Wochen nach der Geburt seiner Schwester. Es waren vier harte Wochen, das Baby zu früh auf der Welt, der Sohn krank und eifersüchtig, schon damals haltlos, kitalos. Meine Tage eine einzige quälende Aneinanderreihung von Reaktionen auf unbeherrschbare Situationen und dem Desinfizieren diverser Körperregionen. Dann ist eines Nachts der Sohn wieder gesund aber der Mann krank (Corona?) und ich bringe den Brummbären auf dem Fahrrad zum Kinderladen. Acht Uhr, die Glocken läuten genau in dem Moment, in dem wir vorbeiradeln. Und ich merke, wie mein Herz überläuft, als mein Sohn aus voller Kehle und vollem Glück “Guten Morgen Glocken” schreit. Unser Ritual, aus der Zeit “pre Baby”. Ich weine auch an diesem Tag – vor Erleichterung, vor Hoffnung – und trete in die Pedalen. “Wir schaffen das,” schreie ich in die schreienden Glocken. “Es wird schon alles irgendwie.” In Kreuzberg geht das, interessiert keine Sau.

Jetzt weine ich halt vor dem Supermarkt und eine Oma neben mir (1,5 m neben mir, um genau zu sein) lächelt mir aufmunternd zu. “Wird schon,” sagt sie und ich lächle zurück aber mein Lächeln ist gelogen, denn ich weine nicht aus Angst vor Corona und deshalb wird es so schnell wohl auch nicht. Ich weine auch nicht, weil ich keine anderen Mütter treffen darf ohne Bänke zwischen uns oder weil wir nicht nach Spanien fliegen konnten oder weil mein Kind sein erstes bewusstes Ostern ohne Osterdeko verbringen muss, weil seine Mama es nicht übers Herz bringt, die gerade zum Leben erwachenden Zweige abzuschneiden.

Ich weine, weil ich tief in mir drin weiß, dass ich gar nicht gerne backe. Weil ich weiß, dass ich nicht nur wegen Corona zu oft mein Kind anschreie. Dass ich nicht nur wegen meinem Kind nicht mehr in die Kirche gehe. Ich weine, weil die Glocken einen verletzten, notdürftig verbundenen Punkt in mir drin berühren, und das tut weh. Es ist der gleiche Schmerz, den ich spüre, wenn ich Butterblumen oder Schafsgarbe sehe. Wenn ich im Morgengrauen Tauben höre. Wenn ich Feuer rieche oder sun blocker, der nach Sonnenmilch riecht. Wenn ich mich daran erinnere, wie es war, als alles noch möglich war. Auf dem Kirchplatz, eine abenteuerliche Reise im Nacken (Kribbeln) und die Glocken läuten und  – was wird als nächstes passieren? Ich stehe an der Ampel, die schon zwei Mal grün war, und frage mich, warum eigentlich so wenig passiert ist seither und warum ich kein Auto mehr fahre und warum ich nicht im Chor singe und warum ich immer noch denke, ich hätte Zeit.

Nein, die Glocken bringen mich nicht zum Weinen, weil ich Angst habe, dass ich sterbe. Ich weine, weil ich  Angst habe, dass ich nicht lebe. Dass ich zu selten zelten, zu viel backen und nie die Nordlichter sehen werde. Zu wenig Wald, zu viele Muffins. Wie die 24-jährige Rebekka auf dem Kirchplatz warte ich gespannt, was das Leben mir servieren wird und wann endlich und wer kümmert sich darum? Aber das muss ich tun. Dieses Kümmern muss tatsächlich ich übernehmen. Diese Selfcare Arbeit muss und soll und darf bei mir liegen.

An diesem Abend befülle ich im dunklen Spielzimmer die Osterkörbe für mich, den Mann und das Kind. Habe ich jemals an den Osterhasen geglaubt? Ich glaube nicht. Ich glaube, ich wusste immer, dass es meine Mutter war, im Keller, an der riesigen Tiefkühltruhe, die die Eier, den Fondant, die Hasen zuteilte. Und es war schön, dass sie es war. Ob sie auch dabei an alles gedacht hat, was sie nicht schafft – die eigenen Projekte, Träume, Ambitionen? Bücher die sie lesen will? Reisen, ohne die sie nicht sterben will? Ich befürchte es.

Bald werde ich sie wieder hören, die Glocken der leeren Kirche. Ich will nicht wieder weinen. Ich will voller Hoffnung sein, wenn sie läuten. Ich will, dass die Glocken für mich Glocken des Triumphs sind, zumindest des Trotzes. Wir werden es irgendwie schaffen und ich werde es irgendwie schaffen. Zu leben in vollen Zügen. Den Anfang mache ich jetzt, trotz Corona oder deswegen: Ich frische jetzt endlich meinen Führerschein auf, und dann kaufe ich vielleicht sogar ein Auto und dann fahre ich zelten. Wenn alles vorbei ist. Wenn alles anfängt.

 

Heul doch, Mama!

2 Feb

Neulich ein Vorwurf direkt vom Stimmband in die Milz: „Du beschwerst dich aber ganz schön viel.“

Ich habe einen Job, den ich mag. Das Kind findet seinen Job auch okay. Es geht ganz gern hin, die Kollegen sind nett. Die Vorgesetzten sind echt super, deshalb hat das Kind (haben wir uns) sich für den Arbeitgeber und nicht einen anderen entschieden. Aber der Kinderladen ist Arbeit für den Brummbären. Wenn ich ihn nach fünf Stunden abhole, ist er gar – mal mehr mal weniger. Wenn er mal nicht hinwill, geht das nicht gut. Es ist kein Ponyhof, es ist Babypflicht. Ein ganzes System basiert darauf, dass er geht.

Ein bisschen Eltern gibt es nicht  – zumindest nicht für BP1*

Also ist es so, dass ich nach meinem Job schnell zum Büro des Kindes eile und es abhole. Und dann beginnt unsere gemeinsame Zeit. Unser Feierabend. Zum Feiern ist mir aber manchmal nicht zu Mute, denn ich bin müde. Manchmal genervt. Vor allem von mir, wenn ich es mit meinem Erwachsenengehirn nicht zu checken, dass das Kind jetzt eine „alles auf Null-Mama“ verdient hat, für seinen Feierabend. Aber ich dieses Level Null in der U-Bahn oft nicht erreiche. Ich arbeite nicht einmal annähernd Vollzeit und weiß auch nicht, wie das Menschen schaffen. Ich dachte, das erste Babyjahr war anstrengend, aber das war es nicht. Ich habe unterschätzt, dass ich in meinem Gewissen immer Mutter bin, im Herzen aber auch oft keine Mutter sein will. Ich habe unterschätzt, wie viel ich eigentlich machen will und wie wenig ich mich gedulden kann. Ich habe ehrlich gesagt nicht erwartet, dass mein Kind mich so gern um sich haben wird. Kurz: Ich habe nicht alles bedacht. Und das ist in den Augen einer männlichen Person in meinem Leben mein Fehler gewesen. Weil ich mich immer beklage über mein zu geringes Nicht-Mama-Dasein. Weil ich das nicht vorher gewusst habe und jetzt nichts daran mache. Ich kann doch einfach mehr weggehen.

Warum gehe ich nicht einfach mehr weg?

Ich habe ein Kind, dem ich jeden Morgen „Tschüss“ sage. Jeden zweiten Morgen weine ich danach ein bisschen im Treppenhaus. Kaum bin ich im Büro, weiß ich nicht mehr, warum. Das Kind will mir nicht „Tschüss“ sagen. Es zeigt das recht deutlich. Weil das so ist, vermeide ich es, dem Kind zum zweiten Mal am Tag „Tschüss“ zu sagen. Das geht für mich nicht. Man soll ja nicht so viele Ratgeber lesen und statt dessen auf sein Gefühl hören und mein Gefühl hat eine starke Hand, die sich um meinen Hals legt, wenn ich daran denke, dem Kind zweimal pro Tag „Tschüss“ zu sagen. Deshalb gehe ich unter der Woche so gut wie nie alleine weg.

Am Wochenende schlagen dann zwei Herzen in meiner Brust: Einerseits hat der Brummbär die Woche über klaglos durchgeackert, jeden Morgen brav „tschüss“ gesagt. Neuerdings holt ihn auch der Papa regelmäßig ab und Mama kommt ab und an erst, wenn er schläft. Er hat geleistet, performt. Das Wochenende ist das Gegenteil der Woche. Ergo Mama-und-Papa-Zeit. Familienzeit. Zwei Tage ohne „Tschüss“ fände der Brummbör sicher schön. Andererseits habe ich eigentlich nur am Wochenende die Gelegenheit, mir mal ein längeres „Ich“-Zeitfenster zu schaffen. Für ganz normale schnöde Freizeit.

Ich brauche nicht nur kinderfreie Zeit, ich brauche mamafreie Zeit

Ja, genau. Da gab es ja neben Familie und Job noch diesen Lebensbestandteil, den auch die primäre Bezugsperson einen Kleinkindes zum Überleben braucht. Und wenn ich Freizeit sage, meine ich nicht nur „Zeit ohne Kind“. Das könnte ja auch einkaufen sein, oder aufräumen. Nein, vielmehr als Zeit ohne den Brummbären brauche ich Zeit ohne mich – ohne mich als Mama. Ich brauche Zeitfenster, die mir ermöglichen, wieder „die alte Rebekka“ zu sein. Feiern gehen. Zum Italiener und ewig über Politik diskutieren. Lippenstift tragen und eine Tasche ohne Babytrinkflasche. Ein Wegbier trinken (mindestens fünf Jahre her, gefühlt). All das gestaltet sich schwierig, wenn man um 20 Uhr erschöpft ins Bett fällt.

Die Frage ist nicht, wie viel Kaffee ich trinken könnte, sollte, oder müsste, damit ich abends weggehen kann. Oder ob es mir einfach egaler sein sollte, wenn der Brummbär mir weinend seine winzigen Schuhe entgegenstreckt und sagt: Nimm mich mit. Die Frage ist: Darf man sich als Mutter jetzt nicht mal mehr beschweren oder was? Darf ich nur klagen, wenn ich alle Möglichkeiten, die sich mir theoretisch bieten, ausgeschöpft habe? Wenn das Kind acht Stunden in die Kita geht und dann vom Papa abgeholt wird? Wenn es endlich durchschläft weil abgestillt (eh selber schuld) und eine Babysitterin akzeptiert und ich meine Beziehung gerettet habe und meine grauen Strähnen gefärbt? Sind emotionale Qualen, ethische Ambivalenzen, Schlafmangel und U-Bahn-Mittagspausen kein Grund mehr zum Klagen?

Kein day drinking ist auch keine Lösung

Dieses Wochenende hatte ich eine Erleuchtung: Wenn „Mama-Rebekka“ abends pennt, muss „Vorher-Rebekka“ eben auf sie zugehen. Ich würde mit meiner besten Freundin ins Logo gehen, eine 24 h geöffnete Kneipe an der Urbanstraße. Und zwar am Nachmittag. Denn ich kann kein Kaffee trinken gehen oder Auf einen Kaffee treffen mehr ertragen. Bäh. Ich will saufen! „Früher“ waren wir ab und an abends in jener Kneipe. Ich war und bin sehr stolz auf diese Idee, meine ebenfalls vielbeschäftigte Freundin zum day drinking am Samstag nachmittag anzustiften.  Leider musste sie arbeiten. Statt dessen sitze ich alleine im Vereinszimmer am Victoriapark und trinke – schnallt euch an – Thymiantee mit Honig. Und ja, das war eine Beschwerde. Fürs Protokoll.

*primäre Bezugsperson eines Kleinkindes: Bei uns bin das ich, aus Gründen. Kann natürlich auch der Papa sein, aus anderen Gründen.

 

 

 

 

 

 

 

Oh nein, ich bin schon groß oder: Wie macht man eigentlich, was man will?

3 Jan

Wir sitzen in der Wintersonne auf Steinplatten im Gras und plötzlich ist es alles wieder da. Wir: mein Freund, mein Kind, meine Schwiegermutter und ich. Die Sonne, die spanische Sonne, die das Gras erstrahlen lässt, die die Landschaft so wunderschön einfäbrt, dass der Anblick mich traurig macht. Ich kenne dieses Grün, es ist der kleine Bruder des Grüns meiner Kindheit. Den Großen, das wahre Grün, habe ich nicht mehr gesehen, seit ich ein Kind war im Münsterland. Und auch diesen Geruch sonnengewärmter Steinplatten habe ich seitdem nicht mehr in der Nase gehabt. Wie ein Faustschlag aufs Nasenbeinins Herz – bäm, ich bin wieder zehn.

Wir Kinder picknicken auf Steinplatten wie in Bullerbü. Es ist noch nicht wirklich Sommer, aber die Platten sind die Heizung der Natur, den ganzen Morgen haben sie die Sonne aufgesogen. Wir haben ein Geschirrhandtuch dabei – wie im Buch. Saft in einem Krug (schon als Kind war ich hoffnungslos nostalgisch), Kekse,  Äpfel. Es ist eine Inszenierung und ich bin eine strenge Regisseurin. Erinnere ich mich jetzt zurück, muss ich schmunzeln. Schon als Kind  war ich nostalgisch, schon mit zehn habe ich Kindheit gespielt. Habe ich storytelling betrieben: Immer ein wenig mehr Gefühl, ein wenig mehr Sehnsucht, ein wenig mehr Metaabenen eingefügt. Das Bild soll stimmen, die Geschichte für die Ewigkeit sein.

Ich bin wieder zehn und mein Körper vibriert vor  Vorfreude auf alles – vom Grillen am Abend über das  Zeltlager im Sommer bis zum Rest meines Lebens. Ich bin gleichzeitig aufgeregt und völlig entspannt. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es grandios werden wird. Aber es ist nicht grandios geworden.

Ach könnte ich doch zurück, ich würde glatt gehen. Oder wäre gegangen, vor dem Brummbären. Und würde so vieles anders machen. Vitamin D schlucken. Für mich einstehen. Vielleicht sogar machen, was ich will?

Erwachsen sein, das ist was passiert, während du dich fragst, ob du es bist.

Ich bin nicht mehr zehn Jahre alt. Ich bin erwachsen. Und obwohl ich mich täglich frage, wie das sein kann, werden meine Haare doch immer grauer und meine Haut gibt immer mehr den Geist auf.

Meine Eltern haben mir immer vermittelt, dass ich die Wahl habe, was ich mal machen will mit meinem Leben. Dass ich werden kann, wer ich will. Ich habe das Ganze etwas zu wörtlich genommen und mir aus den Models im Ottokatalog ausgesucht, wie ich mal aussehen will, später. Irgendwann stellte ich ernüchtert fest, dass man, wenn man erwachsen ist, genauso aussieht wie immer – nur älter. Noch heute warte ich darauf, dass ich eines Morgens aufwache und einen Erwachsenenfrisur habe, so wie die Frauen im Fernsehen. Ein Bob vielleicht, so nach innen eingedreht. Oder lang, aber geglättet, jede Strähne an ihrem Platz. Aber ich trage immernoch Pferdeschwanz wie damals in der Schule, weil ich mich um meinen Erwachsenenfrisur schon selber bemühen müsste – so wie um mein Erwachsenenleben. Der Schlüssel zu der Wohnung mit beheizbarem Handtuchständer und Einbauküche liegt nicht eines Morgens auf dem Nachttisch (nicht, dass ich einen Nachttisch hätte). Und obwohl ich in der Theorie darüber Bescheid weiß, lebe ich bis heute nicht danach und das erklärt, warum ich in einer Wohnung wohne, deren Schlüsselloch ein echtes Loch ist, in das man einen riesigen Schlüssel steckt, so einer wie aus einem Harry Potter Film. Und warum ich einen Harry Potter Zauberstab besitze, aber immer noch keine ETFs.

Erwachsen fühle ich mich schon gar nicht, wenn ich zu Weihnachten nach Hause fahre und in meinem alten Kinderzimmer schlafe. Erwachsene starten ihr eigenes Weihnachten in ihren eigenen Wohnzimmern. Alt fühle ich mich, müde und alt und traurig, auch weil das eigene Jugendzimmer wie kaum etwas anderes für die Träume und Hoffnungen steht, die man so hatte. Hier auf diesem Bett saß ich mit 12, 13, 14, träumte von Jungs und Beziehungen und tippte manisch Jetzt-Texte auf meiner Schreibmaschine ab. Alles mögliche habe ich ersponnen, geschrieben, überlegt. Kurzgeschichten in leere Schulhefte gekritzelt, Bilder gemalt von meinem Haus der Zukunft. Ein Bild, das ich mit circa zehn Jahren gemalt habe, kommt meiner heutigen unerreichbaren Wunschvorstellung so nahe, dass es mir kalt den Rücken runter läuft.

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Ich wusste immer, was ich sein wollte – aber nie, was ich werden will

Es ist verwunderlich und befremdlich und vielleicht sogar tragisch, dass ich mir bei all den Visionen meiner Zukunft offenbar keinerlei Gedanken gemacht habe, was ich mal werden will – ich wusste immer nur, wie. Wie ich einmal leben wollte – Haus, Hund, Reisen und ein schwerer Whiskeydekanter aus geschliffenem Glas. Aber womit ich das Geld dahinter verdienen wollte, war mir immer noch nicht klar, als ich Abitur gemacht habe. Zumindest erinnere ich mich nicht daran. Rückblickend steht für mich zweifelsfrei fest, dass ich Journalismus hätte studieren sollen. Zumindest nach dem Studium ein Volontariat machen. Meine Mutter, so berichtet mein Vater, hat mir das auch immer schon gesagt. Nur ich habe nicht darauf gehört.

Ein Spruch, den meine Mutter immer und immer wieder zu mir sagte in meinem Leben, – bis zum Schluss – lautete: „Mach doch, was du willst. Machst du ja sowieso.“ Ich finde das unendlich traurig, denn erstens mache ich ständig Sachen, die ich nicht will, verharre viel zu lange auf falschen Wegen. Und zweitens weiß ich einfach nicht, was ich will. Und doch hatte meine Mutter recht: Im Machenwasicheigentlichnichtwill bin ich sturr und sehr konsequent. Ich verbeiße mich förmlich in meine falschen Entscheidungen. Denn immerhin ist etwas entschieden (das Studium der Anerikanistik, das Volontariat in der Agentur).  Immerhin schwimme ich nicht. Immerhin wurde kein Fehler eingestanden, keine Unsicherheit. Immerhin kein Kompromiss.

Meine Mutter hat in ihrem Leben viele Kompromisse gemacht. Meine Mutter hat nicht gemacht, was sie wollte. Ich wünschte, dieses Wissen hätte in meinem Leben ein Feuer entfacht. Zumindest eine Glut. Statt dessen hat es mich nur hart gemacht, misstrauisch, immer auf der Hut vor Ratschlägen, Vorschlägen, vorsichtigen Fragen: „Ist das eine gute Idee?“ „Wäre es nicht besser, du würdest…?“  Ich habe panische Angst davor, ausgenutzt zu werden. Beeinflusst. Vom Weg abgebracht. Nur von welchem Weg? Meinen Traum, Geschichtenerzählerin zu sein, Emotionen zu inszenieren, lebe ich nur bedingt. Das ist ein Kompromiss, ein großer sogar. Die Frage ist, was habe ich eigentlich davon?

Es gibt Menschen, die verzichten auf ihre Träume, weil sie Karriere, Luxus, Stabilität nicht aufgeben wollen. Und es gibt Menschen, die leben ihre Träume und verzichten dafür mit Freude auf Luxus und Stabilität. Was ich mache, ist aberwitzig: Ich verzichte auf Luxus, Reichtum und eine Karriere und erfülle mir meine Träume trotzdem nicht. Es ist ein furchtbares Gefühl, wenn einem klar wird, dass man sich selbst kein guter Freund und kein guter Ratgeber ist. Es ist nicht schön, mit Ende 30 in seinem Jugendzimmer zu sitzen und in aller Deutlichkeit zu spüren, dass man versagt hat. Nicht versagt im Hinblick auf alberne, vom Kapitalismus geschaffene Karriereziele, auf materiellen Erfolg. Sondern darin, seinen Weg zu gehen. Sich selbst zu verwirklichen, das Kind in sich stolz zu machen.  Dass man das eine, das nur man selber schaffen kann, nicht geschafft hat: Machen, was man will.

Machen, was ich machen will. Etwas, das so selbstverständlich sein sollte, erscheint mir wie das Revolutionärste der Welt.

Deshalb mein Vorsatz für 2019: Ich werde machen, was ich will. Zu mindestens 30  Prozent. Ich will eine TV Serie schreiben. Ich will eine Krimibuchreihe schreiben. Ich will ein Sachbuch zum Thema Trauern mit Baby schreiben. Diese Dinge will ich tun. Diese Dinge werde ich tun – mit Pferdeschwanz und Zauberstab.

 

 

Wieviel Glück braucht man zum Glücklichsein?

22 Nov

Es ist kein Zufall, dass ich nichts mehr veröffentlicht habe, seit ich wieder arbeiten gehe und – wie eine Freundin es einmal formuliert hat – zwei Leben in einem führe. Mein Arbeitstag beginnt um circa 5.30 Uhr (plus minus 30 Minuten) und endet um 19 Uhr (plus minus 30 Minuten). Wenn man unter „enden“ versteht, dass das Kind schläft. Das wäre aber – wenn ich darüber nachdenke – eine bekloppte Sichtweise, denn schläft das Kind, ist ja alles zu tun, das liege geblieben ist: Haushalt, Lebensadministration, Anrufe, Körperpflege. Und auch Freundschaften und Beziehung sind durchaus Arbeit, wenn man sie so effizient verwalten und pflegen muss. Dementsprechend endet der Arbeitstag eher so um 21 oder 22 Uhr – 17 Stunden kommen also gern zusammen.

Und, was noch schlimmer ist, mein Alltag ist neuerdings von Kompromissen dominiert. Aufmerksame Leser wissen aber, dass Kompromisse für mich ein rotes Tuch sind. Ich habe diesen Muskel irgendwie nicht, oder dieses Gen – vielleicht ist es wie das mit dem Zunge rollen … Kompromisse eingehen und glücklich sein, bislang waren das für mich zwei Dinge, die sich ausschließen.

Glücklich – das sind die anderen

Die Frage, ob ich glücklich bin, war und ist für mich ein lebensdominierendes Thema. Und das ist ein Problem. Denn während ich mich minütlich frage, ob ich eigentlich glücklich bin, genieße ich die Gegenwart nicht, sondern bin gestresst. Zerfressen von Neid sehe ich nur, was andere haben: Sie leben ihren  Traum, sind beruflich erfüllt, wohlhabend, in harmonischen Beziehungen. Und ich? Mein ganzes Leben, meine ganze Existenz – ein einziger Kompromiss. Nichts ist, wie es sein sollte. This is not the life I ordered.

Wie konnte das passieren? Ich hatte einfach kein Glück bisher, am allerwenigstens mit mir selbst: Ich bin leider recht faul und ruhe mich lieber in meiner Opferrolle aus, als aktiv etwas zu ändern. Einmal, ja, da habe ich etwas geändert. Da habe ich gesagt: Weg mit euch, ihr nutzlosen Kompromisse, ich verbanne euch aus meinem Leben. In Lissabon tat ich eigentlich nur, was ich wollte – jeden Tag. Es war wundervoll, meine Schultermuskulatur war entspannt und wenn etwas schief ging, nahm ich es gelassen. Sogar ein Krankenhausaufenthalt und eine lebensverändernde Diagnose konnten mich nicht aus der Ruhe bringen.

Das Interessante aber ist: Vergleiche ich die aktuelle, absolut intensive, anstrengende, fremdbestimmte, sachzwanggetränkte Zeit mit der selbstbestimmten, sonnigen, freien, genussvollen, weißweingetränkten, definitiv abenteuerlichsten Zeit meines Lebens, komme ich zu dem Schluss: Ich bin jetzt nicht glücklicher, aber auch nicht unglücklicher. Wie kann das sein?

„Genieße die Zeit!“ sagen alle.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, da sehnte ich mich nach einem Stück Papier, auf dem stand: Ja, du wirst eines Tages ein Baby haben. Gestempelt und besiegelt und beglaubigt sollte es sein. In dreifacher Ausführung, eine Kopie in einem Bankschließfach. Ich habe diesen Schrieb nie bekommen, irgendwie war keiner zuständig, Aber das Baby, das habe ich bekommen. Liegt es da nicht auf der Hand, dass ich jetzt total glücklich bin, allen Kompromissen zum Trotz? Wer das annimmt, kennt weder mich noch die menschliche Natur. Es ist nicht so, dass ich jede Minute jeden Tages auf windelweichen Wattewölkchen wandele, weil ich ein Kind habe. Dafür bin ich auch viel zu schwer, mit Zehnkilokind in der Trage und Rossmannrucksack auf dem Rücken. „Genieße die Zeit“, sagen alle. Und ich lächele und sage: „Ja, mach ich.“ Und dann ärgere ich mich, weil der Brummbär mit Erbsen wirft und auf den Tisch klettert und ich doch Quiche machen wollte und jetzt gehe ich halt doch mal wieder um 20 Uhr ins Bett.

Statt ständiger Glückseligkeit hat mir das fremdbestimmte Leben mit Kind eine Erkenntnis beschert, mir etwas vor Augen geführt, das schon immer wahr war: Ich brauche es nicht, das große Glück. Dieses herzsprengende, gänsehautige, auf der Stelle hüpfende Glück, diese Verliebtheit ins eigene Leben. Zumindest brauche ich es nicht, um glücklich zu sein. Dafür reicht dieser Tage Zufriedenheit.

 Wer kein Glück hat, kann zufrieden sein

Zufriedenheit ist die Alltagsversion des großen Glücks. Der kleine Bruder. Die Apfelschorle zum Schampus. Der Sneaker zum Stiletto. Der Reis mit Scheiß zum Trüffelirisotto. Zufriedenheit ist quasi das bedingungslose Grundeinkommen der Gefühlszustände. Steht jedem zu, steht jedem frei und eröffnet unendliche Möglichkeiten. Man muss das große Glück nicht aufgeben. Ich spiele weiter Lotto und lese Bücher, die mir sagen sollen, was ich eigentlich will von meinem Leben, das zur Hälfte bereits vorbei ist. Zufriedenheit bedeutet, dass ich mich nicht grämen muss, bis ich weiß, was zu tun ist – oder eben im Lotto gewinne.

In Afrika verhungern Kinder

Ich war neulich im Bahnhof Friedrichsstraße unterwegs, um ein Tablett zu kaufen, das es nicht gab und das ich ohnehin nicht brauche.  Unten am Gleis sah ich ein City Light Poster der Welthungerhilfe. „Es reicht!“ steht da, und ein afrikanischer Junge sitzt weinend am Boden, in der Hand ein leerer Topf. Ich sah das Plakat und dann ging ich zu Nanu Nana. Der Kontrast, der Zynismus hätte nicht größer sein können. Jeden einzelnen Menschen – Toursisten auf der Suche nach irgendwas – dort wollte ich schütteln. Und auch mich selbst. In Afrika verhungern Kinder – und uns ist es einfach scheiß egal. Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen von Hunger – und wir kaufen Weihnachtsgeschenke.

Das finde jedeR, wie er oder sie will. Daran mache jedeR, was er oder sie kann. Mir wurde in diesem Moment eines klar: Kein Glück habe ich niemals nie. Es gibt keine Sekunde in meinem Leben, in der ich kein Glück hatte. (Zehn Sekunden sind um.) Selbst die dunklen Stunden: Meine Mutter hatte einen Gehirntumor – und lebte damit entgegen aller ärztlichen Vorraussagen lange genug, um vier ihrer Enkel kennenzulernen. „Ich will meine Kinder aufwachsen sehen“ sagte sie nach der Diagnose zu meinem Vater. Das hat sie – und sie hat sie sogar Eltern werden sehen. (Wieder zehn Sekunden.) „Ich lande im Rollstuhl,“ habe ich gedacht, nach der Diagnose MS. Und heute jogge ich durch den wunderschönen Park neben meiner Wohnung in der Hauptstadt der immer noch demokratischen Bundesrepublik Deutschland und bin seit sieben Jahren schubfrei. Glück gehabt.

(Zehn Sekunden vergangen) In der vollen S-Bahn denke ich neuerdings Dinge wie: „Toll, hier ist es ja beheizt.“ Wenn mein Kind mich nervt, erinnere ich mich: „Habe ich ein Glück, mein Kind ist gesund und munter.“ Auf dem Weg zur Arbeit nehme ich sogar manchmal das Tablet vor meinem Gesicht weg und schaue mir die Farben am Himmel an (zehn Sekunden), mit schwarzen Baumästen davor, wie ein Scherenschnitt. Bevor jetzt alle die Augen rollen ob meiner neuen Hippie-Attitüde: Ob das Ganze eine Dauerlösung ist, weiß ich nicht. Vielleicht schaffe ich es nicht einmal bis Weihnachten (zehn Sekunden). Aber ich kann fömlich spüren, wie sich meine Schultermuskulatur löst. Und das ist viel wert.

 

Am Boden

25 Aug

Ich befinde mich aktuell in einer Bodenphase. Ich finde mich am Boden wieder, öfters als gewöhnlich. Die Erde zieht mich mehr als sonst an. Stört mich aber nicht. Sich zu erden ist ja angesagt, hygge und so.

Bodenphasen kommen mit zunehmendem Alter immer seltener vor. Auf die komplette Bodenhaftung als Baby folgen das Bauklotzalter und das Teenager-Protest-Rumlungern (früher gehörte dazu das Drehen viel zu luftiger Zigaretten). Dann die Uni: Sitzstreiks, überfüllte Hörsäle, WG-Parties, Plena (oh wie ich sie hasse). Dazu gibt es Bourdeaux vom Lidl oder Matetee. Dann ist erst einmal eine Zeit lang Schluss mit Boden. Berufseinstieg. Abheben auf Absätzen. Daheim besitzt man neuerdings ein Sofa und plötzlich will man keinen grauen Staubpo mehr riskieren. Sowieso hetzt man zu viel durch die Gegend, um so richtig gepflegt auf dem Boden zu sitzen. Am Strand gibt es noch Bodenkontakt, klar, oder beim Picknick im Park (Rosé aus echten Weingläsern). Aber dort wird gegessen oder geruht oder Kluges gesagt – nicht Neues gesehen.  Und das ist es, was das erwachsene Bodenhocken so wertvoll macht: der Perspektivwechsel.

Zum Glück gibt es dann ja irgendwann Babies und der Kreis schließt sich. Der von offizieller Stelle versandte Elternbrief sowie sämtliche Ratgeber empfehlen Eltern knubbeliger Krabbelanfänger, sich schnellstmöglich auf den Boden ihrer Wohnung zu begeben und sich Möbel und Inventar aus der Kindesperspektive anzusehen. Was baumelt, was lockt, was kann kippen? Süß fand ich das, denn welche Babyeltern vebringen nicht sowieso den Großteil ihes Tages auf dem Boden. Oder ging nur mir das so?

Lasse ich mich heute auf Böden nieder, ächze ich für gewöhnlich. Das Ächzen ist eine Mischung aus erschöpft/gequält und wohlig/selbstgerecht – als käme ich grad von einem Tag auf dem Feld. Im Kindercafé handelt mir das ab und an Blicke ein, denn Mütter sollen heute bitte dynamisch sein und sich nicht beklagen. Für mich ist das Ächzen einer der Vorteile des Erwachsenseins überhaupt. Jugendliche ächzen nicht und wenn, dann ist es nicht glaubwürdig. Ich habe mir mein Ächzen redlich verdient und koste es voll aus.

amBoden

Einfach mal die Vogelperspektive einnehmen

 

Neulich sagt der Mann doch glatt zu mir: „Du verurteilst immer alle.“ So ein Quatsch, wollte ich denken, der spinnt doch. Aber es stimmte einfach zu sehr. Ich bin eine von Neid und Missgunst getriebene Zeitgenossin, aber für Fairness habe ich eine Schwäche.
„Fair enough“, sagte ich deshalb zerknirscht und nahm mir fest vor, Menschen auch in meinen Gedanken in Ruhe zu lassen. Was er meinte war weniger das Fällen negativer Urteile, sondern mehr, dass ich Menschen vorschnell in Schubladen stecke.

Neulich waren wir eingeladen zu einem Kaffeeklatsch bei Bekannten, deren Leben ich manchmal besser finde als meins – vor allem so materiell gesehen. Sie haben Geld und nicht wenig und eine perfekt eingerichtete Wohnung und sowieso haben sie alles viel besser als ich im Griff. Vor Ort büchste der Brummbär aus und ich hinterher in die Küche und da hatte er doch glatt seinen Babyzwieback über den blitzblanken Boden gepfeffert und ich ächzte nun also zu Boden, um ihn aufzuheben – und traute meinen Augen kaum: Unter den Küchenschränken lag so allerhand – Staub, Brotkanten, hastig hingefegte Krümel und Flusen. Eine schrumpelige Traube, ein klebriger Suppenlöffel.
„War schön heute, oder?“ fragte ich den Mann auf dem Rückweg ganz gelöst.
„Ist alles ok?“ fragte er zurück.

Sich einfach mal auf den Boden setzen, ist sehr befreiend.  Ich kann nur jedem Erwachsenen empfehlen, sich auf so vielen Böden wie möglich niederzulassen – ob mit oder ohne Ächzen leite man sich aus dem Kontext ab. Man kann dabei nur gewinnen. Und damit meine ich nicht, dass einem jemand mit etwas Glück einen Euro hinwirft. Man spürt Stellen seines Körpers, die man nicht oft spürt und erinnert sich daran, dass der Körper ein ziemlich abgefahrenes Werkzeug ist, das die meisten von uns nur sehr ungenügend nutzen und schätzen. Manchmal findet man etwas wieder, das man lange vermisst hat. Oder – noch besser – etwas, das man überhaupt nicht gesucht hat. Und im besten Falle gewinnen wir eine neue Perspektive. Auf die Welt, auf unseren Besitz, auf unser Leben.

Am Boden kann man sich fallen lassen – es kann wenig passieren. Am Boden kann man den Neustart planen. Ich lege mich auf den Boden, wenn ich wirklich fertig bin. Wenn ich verzweifelt bin oder so erschöpft, dass Schlafen nicht reicht, um dem Ausdruck zu verleihen. Wenn ich nicht mehr weiter weiß. Wenn ich mich wieder aufraffe, habe ich oft eine neue Sicht auf die Situation gewonnen. Vielleicht liegt es daran, dass unterbewusst Kindheitserinnerungen hochkommen, wenn wir die Kinderperspektive einnehmen – mir jedenfalls geht es so, dass ich immer mehr Hoffnung habe, mehr Motivation, mehr Ideen, mehr Schwung, wenn ich vom Bodern wieder aufstehe. Oft klopfe ich mir dann auf die Oberschenkel oder hüpfe einmal kurz. „Auf geht’s!“

 

 

Ein Jahr mit Baby oder: Ich hör` die Weisheit vor lauter Bäumen nicht

9 Aug

Der Brummbär ist ein Jahr alt geworden. Wir machen keine Feier, spielen einfach den ganzen Tag entspannt mit ihm. Es ist ein schöner Tag. Abends kann ich nicht einschlafen, liege bis Mitternacht wach. Um 23.57 Uhr wecke ich den Mann: Jetzt ist er da. Der Mann kann meinen Hang zum Detail nur begrenzt nachvollziehen. Aber ich war schon immer der Typ für Rituale. Immerhin war ich Messdienerin, bin mit und in der katholischen Kirche aufgewachsen. Die machen ja durchaus eine ganz ordentliche Show. Und auch das Leben mit Baby birgt Rituale. Das Einschlafritual beispielsweise. Das Lied zum Zähneputzen. Das ritualisierte Runterwerfen jeglichen Essens.

Jetzt soll sich alles verändern und ich bin wie immer dagegen. Der Brummbär wird in die Kita eingewöhnt und ich gehe bald wieder arbeiten. Bis dahin nutze ich die neue Freiheit zum Schreiben. Während ich vor leeren Dokumenten sitze, spüre ich etwas in mir toben und rauschen. Das erste Jahr mit dem Kind, es braut und gärt und will mich nicht lassen. Wie eine raue Naturszenerie kommt es mir vor, das Muttersein. Schön und grausam und undurchsichtig und klischeehaft, voller Gefahren und schöner Aussichten, voller Feenstaub und dunkler Schatten.

Der Wald

Leben mit Baby ist und war für mich vor allem eins: Grundrauschen. Konstantes Summen und Brummen aus Bedürfnissen und Erledigungen. So viel zu tun, immer, und wenn man eins getan hat, ist ein anderes liegengeblieben. Mit ein wenig Plan wäre es gut zu bewältigen, aber zum Planen bräuchte ich Ruhe und die gibt es nicht. Das Baby ist an mir, auf mir, bei mir. Und wenn es schläft, schlafe ich auch oder ich liege müde rum und denke mir, dass der Plan auch bis morgen warten kann. Es gab viele morgen. Im Nachhinein sehe ich vieles klarer, denke: Hui, so wäre es doch besser gewesen. Aber im Rauschen des Waldes hörte ich die Weisheit vor lauter Bäumen nicht und so war alles immer halb durchdacht, halb aufgeräumt, halb okay.

Der Fluss

Alles ist Überfluss, alles kocht über, schäumt über, läuft über. Ich rase vor Wut, jeden zweiten Tag. Dann läuft mir mein Herz über. Selten war ich so zornig, so enttäuscht – von mir, von meinen Beziehungen, von der Gesellschaft: alles nicht zu schaffen, alles nicht fair, alles so festgefahren, alles so schwer. Selten war ich so euphorisch: alles so einfach, so natürlich, so voller Sinn, Liebe und Natur und – ach Mist, wo ist der verfickte Impfpass? Ich packe Babytaschen und schäume, weil warum packe ich eigentlich schon wieder die Babytasche, der Mann fragt, warum ich schon wieder die Babytasche packe und ich flippe aus und werfe die Babytasche. Dann pack du sie doch. Später werde ich mich über alles ärgern, was in der Babytasche fehlt. Fehlt es wirklich?

Was haben wir uns angetan, was tun wir uns an? Das schönste Kind der Welt haben wir zusammen gemacht, und streiten wegen Gemüsecremesuppe (Sauerei), Sand in der Dusche (zerstört das die Rohre?) und Geld. Ich fahre aus der Haut und fuchtele mit meinen leeren Schuhen: Hier, probier sie an, sieh, wie es dir gefällt, ich zu sein. Bietet er mir seine an, finde ich sie zu klein. „Mein Mann und ich schreien und immer an,“ vertraute mir meine Mattennachbarin im Rückbildungskurs  bereits vor 10 Monaten an. „Joa,“ dachte ich, „muss wohl.“

Der Abgrund

Das Kind geht jetzt in die Kita und ich will es nicht. Ich, die Wissende, die Konzeptionerin, die Strategieentwicklerin, die Recherche-Queen, habe gelesen und notiert und mehr gelesen und gedacht und ich habe ratlos auf die Welt gestarrt angesichts dessen, was ich las. Und dann habe ich gewusst: Es ist nicht richtig. Vielleicht nicht falsch genug für die Revolution, aber so richtig richtig ist es nicht. Nur will das niemand hören, auch nicht der Mann. Und ich, die ach so Dominante, habe gekuscht. Seither sitze ich vor diesem Abgrund und versuche nicht zu tief hineinzuschauen. Alles steht Kopf, nichts stimmt und es ist so schwer in Worte zu fassen. „Warum bleibst du nicht noch ein Jahr zu Hause?“ fragt mich alle Welt und ich merke, wie mir Tränen der Wut in die Augen steigen. Warum ist das die einzige Option, die Menschen einfällt? Wieso fragt das niemand den Mann?

Fakt ist, ich bin ein Elternteil, was bedeutet, nur einer von zweien und das ist die schwerste Übung, die ich bisher in meinem selbstbestimmten Leben zu absolvieren habe. Nun soll der Brummbär mit seinen Artgenossen durchs Gehege hopsen und das wird ihm gefallen. Mein melancholisches zartes Baby hat sich zu einem naseweißen kontaktfreudigen und beißenden kleinen Babybären entwickelt. Ich freue mich für ihn aber ich weiß auch: Es ist nicht richtig, ihn dorthin zu bringen und ich werde mich  fragen müssen: Ist es das wert?

Die Höhle

Manchmal, wenn es ganz ruhig ist, höre ich sie – die Trauer und den Schmerz. Aber ruhig ist es so gut wie nie, dafür sorgt der Brummbär und dafür sorge ich. Netflix, Audible, amazon video, von mir aus auch mal schnödes Radio. Nachts schnarcht der Mann pflichtbewusst. Und doch, ab und an dringen sie zu mir durch – das entfernte Scharren und Klopfen, die Stimmen aus einer Höhle ganz weit unten, ganz tief drinnen. Ich kann sie nicht herauslassen, meine Trauer und meinen Schmerz, aus ihrer Höhle. Und es ist auch nicht so, als schlügen sie panisch gegen Wände, schrien nach Hilfe. Sie wissen noch nicht, dass sie festsitzen, dass sie längst hätten rauskommen sollen. Sie unterhalten sich, klopfen auf Steine. Ich höre sie, aber ich habe noch etwas Zeit. In der Welt ist es ja auch laut und grell und wer weiß – ließe ich sie heraus, vielleicht wären sie lieber dort unten geblieben. Für den Moment lasse ich sie also un-gerettet, knüpfe nachlässig Seile und schmiede an meiner Rüstung für den Ernstfall.

 

 

Milch #2

17 Jul

Vor einem halben Jahr habe ich über Milch geschrieben – als Nostalgiespenderin, als Symbol für das einfache Leben. Jemand fragte mich, ob es mir nicht auch so ginge, ob ich nicht auch durch das Stillen Hemmungen entwickelt hätte, Kuhmilch zu trinken? Damals konnte ich das verneinen. Heute geht es mir so. Ich kann keine Milch trinken, zumindest aktuell nicht.

Ich habe nämlich ein Video1 gesehen, das mich in meinen Grundfesten erschüttert hat. Eigentlich wollte ich nur zum Friseur. Dort muss ich aber warten und scrolle auf Facebook rum. Natürlich gerate ich gleich in die Fänge meiner liebsten Mamagruppe, die mich zum Troll werden lässt – meine neue Sucht. Eine unglaublich selbstgerechte Berliner Hippiemama verurteilt gerade eine andere, die sich wünscht, abends mal ausgehen und ihr zweijähriges Kind beim Papa lassen zu können. Ich verkneife mir, einen passiv-aggressiven Kommentar abzugeben, lasse es mir aber nicht nehmen, mal das Profil der wahrscheinlich-Veganer-unerzogen-KiGa-frei-Punklady zu scannen. Und da stoße ich auf das Video.

Der Film zeigt, wie ein Kalb geboren wird. Es sind schöne Szenen, keine Wackelkamera, keine Übergriffigkeit. Das Ganze wirkt wie eine Tierdoku, liebevoll fast. Man fiebert mit, als die Schnauze des Kalbs sichtbar wird. Dann der Kopf, dann drückt die Kuhmama das Baby ganz heraus. Vorfreude steigt in mir auf, jetzt kommt gleich dieser süße Moment, in dem sich Mamaschnauze und Kalbschnauze treffen, die Mama schaut streng-zärtlich, leckt wahrscheinlich den Schleim von den Nüstern. Ich denke an die Geburt meines Kindes, wie spannend es ist, dass dieses ernst-liebevolle Gesicht wie von selbst kommt, Gesicht Nr. 1 aus dem Mamarepertoire, direkt abrufbar.

Aber sie kommt nicht, diese Szene. Ein Mensch – männlich, mittelalt – tritt mit dem Rücken ins Bild. Er scheucht die Mamakuh auf die zittrigen Beine und drängt sie weg. Dann packt er sich das Kalb und trägt es aus der Box. Die Kamera folgt ihm. Das überrumpelte Kalb, das noch nicht laufen kann, wird auf eine Schubkarre geladen und weggeschoben. Es scheint den Mann nicht zu stören, dass die Kamera ihm folgt. Vielleicht ist dies internes Videomaterial, gedreht von einem Corporate Communications Team, nicht von Journalisten oder gar Tierschützern. Nach wenigen Metern fällt das Kalb wie ein Sack aus der Schubkarre auf Betonboden. Der Mann stopft es ungerührt zurück in die Karre und schiebt weiter. Wir kommen zu einer Reihe dunkler Verschläge. In einem von ihnen wird das neugeborene Kalb abgeladen, die Tür zugesperrt. Diese Dunkelheit ist für ihn nun die Welt. Der Film endet. Es gibt keinen Ton, zum Glück.

Es gibt Dinge, die kann man nicht ungesehen machen

Ich sitze beim Friseur und spüre, wie Adrenalin meinen Körper erobert. Es kribbelt und pumpt und ich kann so oft schlucken wie ich will, das Gefühl geht nicht weg. Ich kenne das Gefühl aus dem Jahr 2014, Januar war es, als ich nachts in meinem Bett lag und mein Körper gerade beschlossen hatte, das Rauchen aufzugeben, Auch jetzt hatte mein Körper, mein Tier-Ich, eine Entscheidung getroffen und pumpte sie durch meine Adern. Ich, mein Gehirn, wir waren nicht Teil davon, durften lediglich zuschauen, zuspüren, zur Kenntnis nehmen. Ich wollte nur zum Friseur und jetzt, so ein Mist, kann ich keine Milch mehr trinken. Ich bereue, das Video angeklickt zu haben. Aber ich weiß: Ich werde diese Szenen nie vergessen.

Tiere essen, das ist eine reine Empathiefrage. Ich habe es ja lange gelassen, fast 25 Jahre lang. Ich war Vegetarierin, Milch und Eier habe ich gegessen. Und mir nie Gedanken darum gemacht, dass ich, als Milchtrinkerin, genauso gut auch das Kalb essen könnte, das wegen mir gezeugt, von der Mutter getrennt und geschlachtet wird. Oder den Hahn. Dann kam der Mann in mein Leben mit seiner Bauernhofkindheit, seiner geerdeten Art und seiner Kuhherde und außerdem las ich gerade Game of Thrones und schon saßen wir im Steakhaus – ich vor einem Filet Mignon – und ich wusste: Ich esse hier gerade das Beste, was es gibt auf der Welt. Es fühlte sich richtig an, natürlich, gewollt, gesollt, gedurft. Milchtrinken fühlt sich anders an. Erschlichen, erbeutet, erdreistet, erbärmlich.

Not your mom. Not your milk.

Es gibt Dinge die sind einfach wahr. Und egal, wie klug wir sind oder wie eloquent oder wie gut im Verdrängen – wir können sie nicht weniger wahr sein lassen. Die Milch der Kuh ist fürs Kälbchen gedacht. Das Kälbchen ist das Baby der Kuh. So einfach ist das. Damit mache jedeR, was sie oder er denkt. Aber wahr ist es.

Und wie die meisten Wahrheiten ist auch diese recht unangenehm. Sie zu akzeptieren ist aufwändig, unbequem, trostlos. Kein Wunder, dass ich mich erst mal auf die Suche nach einer Zwischenlösung begebe. Immerhin gibt es Bio, Demeter, etc. Allerdings erinnere ich mich an meine Irritation nach einer Führung über den Demeterhof Brodowin vor ein paar Jahren. Die kleinen Kälber, in sogenannten Iglus aus Plastik, Einzelhaltung, mit Plastikeuter am Gitter zum Trinken. Und tatsächlich ergibt meine Internetrecherche: Die wenigsten Demeterhöfe lassen die Kälbchen länger als ein paar Tage bei der Mutter. Die Idee der “muttergebundenen Kälberaufzucht” beginnt erst langsam Fuß zu fassen.² Ich finde einen Hof, bei dem die Kälber mehrere Monate bei der Mama bleiben und der in Berlin auf einem Markt seine Milch verkauft. Allerdings bleibt die Frage: Geht die Entrüstung in mir nicht tiefer? Selbst wenn das Kalb bei der Mama trinkt, ein paar Monate lang – macht das die ganze Aktion okay? Dürfen wir dann die Kuh immer wieder befruchten und immer neue Kälber gebären lassen, damit wir die Milch trinken können? Und das Kalb dann entweder zum Schlachthof schicken³ oder selbst zur Gebährmaschine machen?

Ein Leben ohne Käse möchte ich mir nicht vorstellen.

Ich habe keine Lust, ein Veganerin zu sein. Ich bin Genießerin und kompromisslos vegane zu essen schließt Genuss für mich aus. Zum Glück hält sich meine Empathie mit Geflügel in Grenzen. Ich sage nicht, dass das richtig ist. Ich benenne einen Fakt. Ich kaufe also weiter meine Öko-Bio-Hippie-Bruderhahn-Eier und auch mal ein vormals glückliches Huhn für den Ofen. Ich werde auch nicht komplett auf Käse verzichten – was Käse angeht, bin ich Realistin. Zum Glück gehöre ich nicht zu den Menschen, für die nur 100 Prozent gilt und alles andere ist fürn Arsch und man kann es gleich lassen. Oder zu den what-about-ism-Typen. Ich nehme mir also nicht zu viel vor. Was ich heute sagen kann ist: Ich kaufe jetzt erstmal keine Milch mehr. Mir schmeckt Hafermilch ganz okay, nur im Tee geht das gar nicht. Aber das ist dann eben so. Ich kaufe jetzt erstmal keinen Käse und statt Butter gibt es Margarine. Käse wird für mich – und ich denke, das wäre auch eine gute Lösung für die Welt an sich – einfach zur Delikatesse. Ab und an, wenn ich mir was gönnen will oder ein Trostpflaster brauche, dann kaufe ich mir einen wunderbar fruchtigen Côtes du Rhône in der LPG und dazu suche ich mir ein feines, besonderes, kostspieliges Stück Demeter-Käse aus. Das nennt man dann Kompromiss und außerdem nennt man es pures Glück. Ob ich das Baguettebrot dazu mit Margarine ertrage, das muss sich erst zeigen.

Übrigens gibt es einen Hoffnungsschimmer am Horizont: Neben diversen Unternehmen, die versuchen, Fleisch aus dem Labor auf den Markt zu bringen, gibt es auch ein kalifornisches Start-up namens Perfect Day (ehemals Muufri)4, das sich daran versucht, Kuhmilch zu kopieren. Sollte diese tierleidfreie Milch auf den Markt kommen, werde ich sie probieren.

 

 

Quellen/Videos (unangenehm!!)

1 https://www.facebook.com/garytvcom/videos/1692183837503524/?hc_ref=ARTgATb7YvuzY5wV7_ZxNAJHY1rPVQZiSMQSGQsimfAqhXgivqBjcoBK1_9Hk-BRKHQ&fref=nf
² https://www.demeter.de/muttergebundene-kaelberaufzucht
³ https://www.youtube.com/watch?v=uOJHwwIjQU0
4 https://www.forbes.com/sites/michaelpellmanrowland/2018/02/27/perfectday-disrupts-dairy/#2fef54b35f61

 

Eine Frage der Organisation

24 Mai

Am langen Wochenende war Karneval der Kulturen, Hunderttausende zogen wenige Meter Luftlinie an meiner Wohnung vorbei. Ich habe es geschafft, mich wie ein Gollum zwei Tage lang in meiner schattigen grünen Hinterhofhöhle zu verschanzen und bin glücklich deshalb. Allein die Geräuschkulisse lässt mich um 30 Jahre altern.

„Wieso tut man sich das an?“
frage ich den Brummbären mit knarzender Stimme, aber er hört mir gar nicht zu, denn es gibt Erdbeeren und mit Bällen spielende Kinder.

Menschenaufläufe sind tatsächlich die einzigen Aufläufe, die ich nicht mag. Ich bin zu sehr Alphatier: Jedem, der mir vor die Füße läuft, unterstelle ich böse Absicht. Von langer Hand geplant war das, der Mensch wurde womöglich nur gezeugt, um mir an diesem sonnigen Tag den Mojito vor den Latz zu knallen. Mein inneres Kind steigt sofort auf einen Sessel und streichelt eine weiße Katze oder was größenwahnsinnige  Bösewichte halt so machen. Nicht auszuschließen ist, dass ich mit dem Fuß aufstampfe und „Menno“ sage.

Ich bin keinesfalls Eremit oder so, bin sehr sozial eigentlich. So beneide ich oft Menschen, die sich in großen Gruppen im Park treffen, Stoffwimpel in die Bäume hängen und spritzige Getränke mit Grünzeug drin aus Einmachgläsern trinken. In der Realität genieße ich derlei Gruppenaktivitäten leider nicht so sehr: Ich habe einfach keine Geduld und einen Hang zur Egozentrik und außerdem bin ich hochsensibel. Das ist ganz praktisch, denn wenn man das sagt, kann einem keiner mehr etwas. Hochsensibel ist ja quasi das „Wupp“ der Erwachsenenwelt.

In der Schule war ich sogar Schülersprecherin. Davor oft Klassensprecherin – klar, man wird ebenso wenig aus dem Stand Schülersprecherin wie man ohne vorherige Erfahrung Parteivorsitzende wird. Es sei denn man heißt Jonas D., hat griechische Eltern und sieht aus wie der Mädchenschwarm aus Degrassy Junior High. Allzu viel erreicht hat Jonas D. allerdings nicht während seiner Amtszeit. Ich vertrat immerhin die Schülerschaft auf zwei Beerdigungen. Lag womöglich ein dunkler Schatten über meiner Amtszeit? Auf jeden Fall ging es danach steil bergab mit meiner Karriere. Ich bin so ein Mensch, auf den der Satz „She peaked in high school“ zutreffen könnte .

Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich gestehen: Ich mag eine Menschenansammlung expontentiell mehr oder weniger zu dem Faktor der Macht, die ich in dieser Gruppe habe. In der Schule fühlte ich mich deshalb pudelwohl, ich genoss meine Macht – ging aber verantwortungsbewusst damit um. Als Schülersprecherin stand meine Tür immer offen. Das Schülervertretungsbüro ist bis heute das einzige Büro, das ich je hatte. Seither habe ich fragwürdige Karriereentscheidungen getroffen und deshalb gibt es keine Türen mehr für mich. Vielleicht ist das aber auch besser so – wahrscheinlich würde ich sie heute einfach immer schließen.

Neben der Macht fehlt mir aus diesen Tagen vor allem die Organisation. Meine Kindheit und Jugend waren so wunderbar durchorganisiert. Und nein, nicht von Helikoptereltern – ich bin ja Kind der „komm heim wenn die Straßenlaternen angehen“-Generation – sondern von Organisationen.

Mein gesamtes Jahr war strukturiert von Schule und Jugendheim. In letzterem hingen alle Kinder, die Messdiener waren, rum, wenn sie nicht in der Schule rumhingen oder im Sportverein. Mein Vater arbeitete dort, meine Freunde waren dort. Wir bastelten, machten Ausflüge, zelteten bei jeder Gelegenheit. Es gab klare Strukturen: Erst war man Kote (Kind), dann Kadett (als Teenager lernt man, eine Kindergruppe zu betreuen), schließlich, wenn man wollte, Gruppenleiter. Man wusste immer genau, wo man stand und was als nächstes anstand. Verlässliche good times, ein Abo auf Kindheitserinnerungen.

Als ich nach dem Abi nach Berlin zog, fiel ich regelrecht in ein soziales Loch. Obwohl ich Menschen kannte, fühlte ich mich allein. Nie wusste ich, was anstand. Freute ich mich auf einen Abend, änderte sich plötzlich der Plan. Ich durchschaute die Gruppendynamiken der Kommilitonen und WG-Mitbewohner nicht. Ich vermisste die Zeltlager, die Lagerfeuer, die festen Treffen, die Regeln. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben Heimweh.

Bald machte ich mich auf die Suche nach einem neuen Stamm. Ich suchte in linken Kreisen, aber Scheuklappen waren schon damals nicht mein Ding. Menschen, die „scheiß Bullen“ rufen und dann drei Tage später online Anzeige erstatten, weil ihr Fahrrad geklaut wurde, kann ich leider nicht ernst nehmen. Und ich hatte (und habe) nicht genug gelesen, um zu wissen, ob ich wirklich gegen den Kapitaismus bin. In der Uni fand ich schließlich nach zwei Jahren die studentische Selbstverwaltung. Ab da ging es bergauf, denn hier ging es weniger um Marx und Engels und mehr darum, wer Brötchen schmiert für das selbstbetriebene Café und ob das Sommerfest eine Karaokemaschine braucht (ja!). Mit dem Ende meines Studiums war natürlich auch dieses Intermezzo beendet.

Jetzt bin ich 36 und endlich konservativ genug, um die Fäden da wieder aufzunehmen, wo sie gefallen sind. Ich habe mein Kind taufen lassen und besuche mit ihm die Gemeinde-Krabbelgruppe „Fischschwarm“. Was fürs Baby nett ist, wird mir aber wohl nicht viel nützen: Ich möchte ja nicht nur meine Nostalgie befriedigen, sondern schon gern meine Stärken wie einbringen, um etwas zu bewegen – wie damals in der Schule. Und da ist die katholische Kirche wohl nicht der richtige Ort.

Deshalb spiele ich mit dem Gedanken, in eine politische Partei einzutreten. Nur welche? Ich bin ja Pragmatin, eher „zack zack“, also definitiv „Realo“. Wichtig ist auch zu wissen, dass ich kaum politische Allgemeinbildung besitze, da ich generell kaum Allgemeinbildung besitze. Allerdings habe ich einen schnellen Verstand und kann auch schnell und gut lesen. Ich könnte mich also defintiv vorbereiten. Vielleicht trete ich in die SPD ein  – da sollte es doch aktuell einiges zu bewegen geben.

Vorschläge willkommen (nicht auf Parteien beschränkt)!!

Kritik an #MeToo: „neue Weiblichkeit“ auf Kommando?

6 Mai

Jetzt passiert es wirklich: weiserwerden äußert sich gesellschaftspolitisch. Das auf einem Blog, der eigentlich nur um mich kreist. Was war geschehen?

Ich kann es mir nur dadurch erklären, dass ich erkältet war und in dieser Woche des Dahinsiechens keinerlei Ambitionen verspürte. Zu schreiben, was aus mir zu machen. Und so kam ich endlich mal dazu, ausgiebig Online-Zeitungen zu lesen. In mehreren gab es Interviews mit der Philosophin Dr. Svenja Flaßpöhler*, die auch Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“ ist sowie Autorin mehrerer Bücher. Am 2. Mai erschien ihre Streitschrift „Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit“. Darin geht sie die #MeToo-Bewegung scharf an. Als ich das Interview mit Frau Flaßpöhler auf ZEIT Online las, war ich sofort so: „Yeah! Genau!“ Aber dann habe ich darüber nachgedacht und auf einmal fiel mir auf: Nein! Da stimmt ein ganz entscheidender Punkt nicht. Welcher das ist und was das bedeutet, möchte ich hier darlegen.

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Svenja Flaßpöhler kritisiert also #MeToo, das digitale Durchzählen auf Twitter, an dem ich mich übrigens beteiligt habe. Und zwar, weil #MeToo für mich in seiner ursprünglichen Intention kein selbstmitleidiger Opferhaufen ist, wie Flaßpöhler meint, sondern eine Zuwortmeldung. Der Gedankengang dahinter erscheint logisch: Sobald die Weinstein-Vorwürfe publik wurden, startete Schauspielerin Alyssa Milano diesen Aufruf: “If all the women who have been sexually harassed or assaulted wrote ‘Me too’ as a status, we might give people a sense of the magnitude of the problem”  Sie muss wohl genau das vor ihrem inneren Augen gesehen haben, was auch ich erwartet habe: eine schnell aufgebaute „Das sind Einzelfälle“-Argumentation. Einzelfälle, Einzelphänomene, vereinzelte Ausfälle vereinzelter Männer in Machtpositionen. Lapses of judgement. Das kann ja mal passieren.

Als nächstes wäre der Charakter der betroffenen Frauen unter die Lupe genommen worden: Waren sie zu devot, zu passiv – gar karrieregeil? Was hatten sie getragen, gesagt, getan, nicht getan? Übersetzung: Welche falschen Signale hatten sie dem Mann gegeben? Und damit wäre das Ganze auch schnell begraben worden.

Ein einfacher Hashtag, der – und das weiß ich besonders zu schätzen –  nicht einmal ein peinlich-gewolltes Wortspiel enthält (und nicht im Orignal von Milano stammt, sondern bereits seit 2006 von Tarana Burke eingeführt wurde) konnte innerhalb kürzester Zeit beiden Dynamiken Einhalt gebieten. Nein, sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt sind keine Randphänomene. Und nein, es trifft nicht nur devote Schauspielerinnen auf der Karriereleiter.

Jetzt muss man sich fragen: Was kann daran verkehrt sein?

Flaßpöhlers Kritik: Die Bewegung macht Frauen zum Opfer, die Frauen machen sich klein: „Zielführender wäre, sich zu fragen: Was tragen wir auch selber zu unserer unterlegenen Position bei, zum Beispiel durch Gefälligkeit und fehlenden Mut zur Autonomie?“  Und es stimmt, sie bennent den Kern des Problems: Frauen haben zu oft verinnerlicht, dass sie gefallen müssen. Und Männer, dass sie bestimmen dürfen. Aber zu glauben, dass man das ganze Problem lösen kann, in dem man Frauen heute sagt: „Seid doch mal autonomer!“ ist weltfremd und arrogant. Keine Frau, die Opfer von Gewalt geworden ist, wird sich nach der Lektüre der Streitschrift mit der flachen Hand an die Stirn schlage und sagen: „Ach Mensch, so ein Mist, hätte ich das doch nur früher gewusst. Autonomie, klar! Beim nächsten Mal dann halt.“

Die Kritik geht weiter: „Was nützt ein nachträgliches Anprangern von Überschreitungen, die man hätte verhindern können?“ fragt Flaßpöhler in der Leipziger Volkszeitung. „Halte still und beklage dich hinterher – ist dieses hilflose Nachtreten wirklich das Verständnis von Emanzipation, das wir unseren Töchtern mit auf den Weg geben wollen?“

Oh, wie finde ich mich darin wieder. Ich bin ganz genauso. Reflexartig rolle ich die Augen im Angesicht von Schwäche. Mal ein Beispiel: Meine Mutter war Sozialarbeiterin und ich habe eine Zeit lang überlegt, in ihre Fußstapfen zu treten. Habe mich dann aber dagegen entschieden, weil mir klar wurde: Wenn ein Drogensüchtiger zu mir in eine Beratung käme, würde ich ihn im schlimmsten Falle einfach anschreien: „Nimm – keine – Drogen! Trage – die Konsequenzen – deiner – Handlungen!“ Als ich die Azari-Geschichte las, kaute ich mir fast auf dem Unterarm: „Dann geh doch einfach nach Hause!“ schrie meine innere souveräne Rebekka. „Selbst schuld!“ Und dann: „Huch! Hab ich das gerade wirklich gedacht?“

 

Flaßpöhler argumentiert mit Sozialisation – lässt diese aber gleichzeitig nicht gelten.

Aber: Wie ich begeht Svenja Flaßpöhler einen Denkfehler, einen, der aus der Arroganz der Besserkönnenden entsteht. Sie verwechselt Meinung mit Tatsachen. Will sagen: Dass die Frauen, um die es bei #MeToo oft geht, anders sein könnten, anders agieren müssten, sich anders hätten verhalten sollen – das ist eine Meinung (auch meine). Aber: Dass sie es nicht getan haben, ist ein Fakt. Und Tatsachen übertrumpfen Meinungen. Ich unterstelle, dass eine Frau in einer Notlage, so albern sie anderen, souveräneren Frauen erscheint, gehen würde, wenn sie es könnte. Daraus schließe ich, dass die Frauen, deren stories ich lese und las, es schlicht nicht besser lösen konnten. Dass sie die erlebten Überschreitungen eben nicht hätten verhindern können.

Flaßpöhler will, dass wir Frauen uns fragen, wie wir selbst beitragen „zur Festigung der männlichen Macht, die immerhin keineswegs mehr rechtlich legitimiert ist.“ Ja, das kann man machen und sollte man auch. Aber nach dem „Was?“ sollte man schleunigst hinterher fragen: „Warum?“ Warum verhalten sich so viele Frauen angesichts sexueller Übergriffe passiv? Weil sie von Mädchenbeinen an beigebracht bekommen haben, dass sie gefallen sollen. Konflikte vermeiden, Harmonie wahren. Lieb und freundlich sein. Die Sozialisation zu ignorieren und Frauen diese Muster als „Fehlverhalten“, das mit ein wenig gutem Zuspruch und den richtige Gedanken selbst zu ändern ist, vorzuwefen, ist falsch. Zumal Flaßpöhler wenige Sätze später selbst mit Sozialisation argumentiert, wenn sie sich der „Was leben wir unseren Töchtern vor?“-Logik bedient.

 

Die große Mehrheit der Frauen ist auf Harmonie gebürstet – ich gehöre dazu.

Ich habe schon so viele unangemessene Sprüche von Vorgesetzten weggelacht oder „buddy-mäßig“ zurückgeschossen und hinterher gedacht: Nein, das war nicht in Ordnung. Da hätte ich nicht lachen, feixen dürfen. Da hätte ich sagen müssen: „Das akzeptiere ich nicht.“ Ich habe es nicht gemacht. Um des lieben Friedens willen? Für meine Karriere? Ich weiß es nicht.

Also, entweder es ist die Sozialisierung oder da war was im Wasser in den Achtzigern – denn selbst mehr oder minder selbstbewusste Frauen wie ich haben es verinnerlicht, verlegen zu lachen, statt zu kotzen. Im besten Falle wegzugehen. Stiller Rückzug statt Wände wackeln lassen. „Tschuldigung, blöde Frage, klopf klopf, wäre es möglich … blabla.“ Ich kenne in meinem Leben vielleicht zwölf Frauen, die ich davon ausnehmen würde. Sind diese anders gebaut? Anders aufgewachsen? Einfach klüger als wir alle? Ich weiß es nicht.

Aber was ist nun die Konsequenz, wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, in denen Männern Frauen nicht gegen ihren Willen anfassen, in denen Männer nicht zu Frauen sagen, sie könnten ja die Nacht mit einem potenziellen Kunden verbringen und der Firma so den Etat sichern (mir so passiert)? Alle, Frauen wie Männer, platt machen und nochmal ganz neu? Eher nicht. Unseren Töchtern etwas Neues, Besseres beibringen  – ja, definitiv. Das heißt aber nicht, dass in der Gegenwart nicht auch von bestehenden Strukturen verlangt werden kann, sich zu ändern – es besser zu machen!

 

Wir müssen zweigleisig fahren, wenn sich jetzt etwas ändern soll

Svenja Flaßpöhler bemängelt, die „Initiative“ #MeToo verlange „alles von den Männern beziehungsweise vom Staat, aber nichts von den Frauen selbst.“ Ich verstehe die Kritik, aber ich verstehe auch, warum im Hier und Jetzt, mit den Rahmenbedingungen, die wir haben, der Staat (der ja nicht nur aus Männern besteht) und gesellschaftliche Institutionen ins Boot geholt werden müssen. Nennen wir das Ganze Phase 1.

Weil: Wenn es ein Fakt ist, dass HEUTE viele Frauen nicht in der Lage sind, so potent und selbstsicher durchs Leben und sexuelle Begegnungen zu schlendern wie Svenja Flaßpöhler es gut gemeint vorschlägt, dann kann die Konsequenz nur sein: Wir müssen zweigleisig fahren, wenn sich etwas ändern soll für Frauen und Männer  – denn nicht vergessen sollten wir, wie auch Flaßpöhler schreibt, dass Männer ebenfalls Opfer ihrer Sozialisation sind.

  • Phase 1:
    Für die schon kaputt sozialisierten Damen („ich muss Harmonie wahren“) und Herren („alle interessiert es, was ich denke“) müssen wir im HIER UND JETZT andere Rahmenbedingungen schaffen, damit die Machtgefälle flacher werden. Das heißt für mich: Quoten. Gleichstellungsbeauftragte (die keine Frau sein müssen). Eine Gesetzgebung, die die Gleichstellung von Frauen und Männern realisierbar macht. Und, weil jetzt viele schreien werden „Gibt es schon!“ – immer wieder unangenehme gesellschaftliche Diskussionen über diese Themen, damit sich Frauen heute vielleicht doch noch ein bisschen verändern, zum Beispiel, in dem sie sich doch trauen, etwas zu sagen. Denn ganz offensichtlich reicht ein Artikel 3 nicht aus, um die unter #MeToo geschilderten Vorfälle zu verhindern.
  • Phase 2:
    Ab jetzt wird der Nachwuchs so sozialisiert, dass aus Mädchen keine Frauen werden, die nicht nach Hause gehen, wenn ein mittelberühmter TV-Star unbedingt Sex haben will, sie aber nicht. Und keine Männer, die nicht checken, wenn ihr Gegenüber sie abstoßend findet oder dass man nicht alles sagen muss, was man denkt. Das bedeutet, dass Adjektive wie „lieb“ und „stark“ nicht mehr wie Bonbons an Mädchen und Jungs verteilt werden. Dass wir eine Sprache haben, in der Frauen nicht nur mitgemeint sind. Und dass kluge, souveräne Frauen wie Svenja Flaßpöhler und die zwölf Frauen, die ich kenne, echte Vorbilder sind. Sie können mit ihren Gedanken einen echten Unterschied machen.

Denn natürlich will niemand das Verhalten (männlich wie weiblich), das unter  #MeToo beschrieben wird, seinen Töchtern vorleben. Natürlich kann das Ziel unserer Gesellschaft nur sein, dass alle Mädchen und Frauen völlig selbstverständlich für sich einstehen, Übergriffigkeiten jeglicher Art konsequent und souverän abwehren, angstfrei durchs Leben gehen und keinen Konflikt scheuen, in dem es um ihre physische oder psychische Unversehrheit geht. Oder noch besser: Dass es keine derartigen Übergriffe mehr gibt.

 

Jetzt ist der Moment, dafür zu sorgen, dass „unsere Töchter“ einem Weinstein in die Eier treten – und ihn dann anzeigen.

Aber das bedeutet nicht nur, Frauen zu mehr Autonomie zu animieren, sie zu ermutigen, wie Flaßpöhler es in einem Gastbeitrag schreibt. Es bedeutet auch, dass auf der Polizeitwache dann ein sensibilisierter Beamter oder eine sensibilisierte Beamtin sitzt, die das Ganze aufnimmt. Dass es eine Rechtslage gibt, in der das Ganze vernünftig geahndet wird. Ein gesellschaftliches Klima, in dem die Macht und das Geld eines Weinstein nicht schwerer wiegen als die Aussage einer eventuell unterpriviligierten Frau. In dem fair entschieden wird.

Nur: Das kann Hashtag-Feminismus, wie Flaßpöhler ihn nennt, nicht leisten und das war nach meinem Verständnis auch nicht der Sinn hinter #MeToo. Deutlich zu machen, wie weit verbreitet sexuelle Belästigung ist, kann nicht verkehrt sein. Jetzt müssen wir  schauen, was wir mit diesem Bewusstsein machen. Ich hoffe, da kommt noch mehr als eine „neue Weiblichkeit“.

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Quellen:

https://www.zeit.de/2018/19/metoo-bewegung-svenja-flasspoehler-kritik

http://www.lvz.de/Nachrichten/Politik/Neue-Frauen-braucht-das-Land

 

*Ich schreibe im Folgenden Svenja Flaßpöhler oder Flaßpöhler, weil ich nicht so abgehe auf Doktortitel und es kürzer ist.

 

Herr P. glaubt nicht an Mülltrennung

26 Apr

Herr P. ist mein Nachbar und vielleicht auch mein Projekt. Letzteres versuche ich aktuell kritisch zu überprüfen, denn Herr P. ist zwar alt und allein aber deshalb nicht notwendigerweise einsam oder willens, das Verzweiflungsprojekt einer von Überforderung unterforderter Mutter zu werden.

Bis der Brummbär kam, war Herr P. für mich der alte Mann, der im Müll wühlt. Die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich ihn sah, war beim Müllrausbringen. Herr P. sammelt Briefmarken und durchsucht zu diesem Zweck täglich die Müllcontainer im Hof. Und zwar alle. Vielleicht hat er das Prinzip hinter der Mülltrennung nicht verstanden. Vielleicht ist er ganz einfach Realist. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass Herr P.  einfach zu viel Zeit zu füllen hat. Für die Zeitfenster in seinem Leben reichen die blauen Müllcontainer schlicht nicht aus.

Jedenfalls gab es pre-Baby, in meinen WG-Jahren, wenig Schnittmenge zwischen Herrn P.s Jagdzeiten und meinen Müllrunterbringmomenten. Manchmal sahen wie ihn, wenn wir trinkend im Hof saßen, im Sommer, unverschämt strotzend vor Zukunft, Zuversicht und Weltläufigkeit. Eiskalter Sancerre, die Weingläser von oben im Korb mitgebracht. Melone, klar. Oder abends Pizza mit Rucola und Parmesansplittern, dazu Tempranillo. Man grüßte, aber war auch peinlich berührt ob der Grauheit des alten Manns. Grau ist er immer noch, er trägt dunkle, staubig wirkende Hosen und Jacken und dazu eine blaue Schirmmütze. Alles an ihm schreit „Stasi“ in meinem Westler-Gehirn. Aber jetzt kenne ich seinen Namen und den Schalk, der in den Augen blitzt. Herr P. ist Mitte 80 und allein. Möglicherweise ist er auch einsam, ich vermag es nicht zu sagen. Das Projekt wäre, es herauszufinden. Und mich, falls ja, als heroischer Engel hinabzustürzen, ihn zu erretten. Aber wahrscheinlich hat Herr P. schon genug mitgemacht.

Es ist wohl kein Zufall, dass wir im Westen immer älter und gleichzeitig immer einsamer werden. Was nicht heißt, das nur alte Menschen einsam sind. Sehr wohl heißt es, dass viele alte Menschen einsam sind. In England soll es bald ein Einsamkeitsministerium geben. In Berlin gibt es eine Anti-Einsamkeits-Hotline für Senioren. Ein Tagesspiegel-Artikel weiß zu berichten, dass in Berlin circa eine Viertelmillion alte Menschen einsam sind – eine auf Studien basierende Schätzung. Ob jemand einsam ist oder lediglich allein, kann nur die betroffene Person sagen. Ich selbst bin gern allein, aber einsam habe ich mich nur in meinen ersten Jahren in Berlin gefühlt. Das Problem ist, dass man schlecht fragen kann: „Entschuldigung, sind Sie noch allein oder sind Sie schon einsam?“

Sein Bruder sei gestorben, erzählt Herr P. mir neulich. Jetzt kenne er nur noch dessen Frau. Die ist offenbar okay. Gesehen habe ich sie nie. Den Haushalt schmeißt Herr P. allein. Man sieht es – seine Kleidung ist fleckig, sein Körper Spielwiese des Verfalls. Aber wie wichtig sind diese Dinge? Gern würde ich mal einen Blick in seine Wohnung werfen. Aber ich weiß nicht, wie.

Herr P. ist großer Briefmarkensammler. Ich könnte ihn bitten, mir seine Sammlung zu zeigen. Der Gedanke rettet mir den Tag. Ob Herr P., dessen Vornamen ich nicht kenne (Hermann? Heinrich?), in seinen jungen Jahren fesche Mädels mit seiner Sammlung beeindruckt hat? Hat er womöglich deshalb mit dem Sammeln angefangen?

Nach der Beerdigung meiner Mutter fuhr ich mit einer zum Bersten gefüllten Mappe voller leerer Briefumschläge zurück nach Berlin. Beim Durchsehen der Kondolenzpost hatte ich automatisch an Herrn P. gedacht. „An das Trauerhaus“ steht ganz altmodisch auf vielen der Kuverts. Ich quetsche den dicken Packen in seinen Briefkasten. Mit einer kleinen Notiz. Ich will kein großes Aufhebens daraus machen. Wie nobel von mir – außer, dass es gelogen ist. Als Herr P. das Ganze nie erwähnt, bin ich enttäuscht. Was habe ich erwartet? Dass wir bonden, weil meine Mutter tot ist und er ja bald auch?

Neulich biete ich an, ihm etwas vom Supermarkt mitzubringen. Herr P., rauchend in einer Sitzecke aus ausrangierten Stühlen hinter den Müllcontainern, lehnt dankend ab. Einkaufen geht er selbst, so wie er alles selbst macht. Unendlich langsam, wie auf tauben Füßen, tapst er zum NP um die Ecke. Mit Lebensmitteln kennt er sich aus, schließlich kommt er aus der Branche. 50 Jahre war er Angestellter des KDW, Feinkostabteilung. „Kaufhaus der Werktätigen“ nennt er es mit blitzenden Augen. Ob er noch ab und zu hingeht, jetzt, frage ich. Nein. Nur zu NP. Die Delikatessen, die ich in seinem Korb erspitzele, sagen eher Altersarmut als Savoir-vivre: eingeschweißter Mamorkuchen, Corned beef, Bohnensuppe in der Konserve. Gern würde ich Herrn P. Räucherlachs kaufen, Flugmangos, Roquefort und Pralinen. Aber ich weiß nicht wie.

Der Mann findet mich komisch, die ich händeringend hinterm Küchenfenster lauere wie die alte Frau, die Herr P. nie hatte. Gleichzeitig findet er es auch merkwürdig, dass sich niemand aus der Hausgemeinschaft dem alten Mann aufdrängt. In Spanien gäbe es sowas nicht. In Spanien entscheiden die Frauen, was jemand braucht und dann lassen sie es diesem Jemanden verdammt noch mal zu Teil werden. Ob er oder sie will oder nicht. Wie furchtbar, denke ich. Und dann: Wie schön.

Mir fehlt die angeborene Zweifelsfreiheit spanischer Mamas, also gehe ich eher peu à peu vor. Ich mache Herrn P. mürbe. Mit meinem Gegrüße und meinen Briefmarken und meinen unverschämten Fragen. Der Brummbär tut das seinige, indem er niedlich guckt. Auch mal lächelt, die Zähne zeigt. Das kommt durchaus an. Ob er Kinder habe, frage ich Herrn P. einmal geraderaus. Ich darf das, ich hab ein Baby.
„Nein,“ sagt er. Er habe nur seinen Bruder.
Aber der ist doch tot, denke ich, und schaffe es gerade noch, den Einwand herunterzuschlucken. Bald wird auch Herr P. sterben, da bin ich mir sicher. Wer so isst und so raucht, wird nicht 100, Helmut Schmidt hin oder her. Er weiß es auch. Jeden Tag frage ich „Wie geht es Ihnen?“ Und jeden Tag antwortet Herr P.: „Na, man lebt noch.“ Früher habe er getrunken, erzählt er einmal. Jetzt nur noch Mineralwasser, seit 30 Jahren. Und Kaffee. Dazu Mamorkuchen. Und Zigaretten. Manchmal, wenn ich Herrn P. einige Tage nicht sehe, bekomme ich Angst. Wird es jemand, werde ich es bemerken, wenn er gestorben ist? Was soll ich tun? Klingeln? Und dann erleichtert sagen: „Sie leben noch!“ Warum eigentlich nicht? Wer würde sich darüber nicht freuen, wenn ein anderer erleichtert sagt: Du lebst, zum Glück!

Herr P. gehört zum Hinterhof wie die Fahrräder und die sich kabbelnden Katzen. Er macht den Eindruck, als wäre er schon immer hier gewesen. Und fast ist das die Wahrheit. Geboren wurde er woanders – in einem Krankenhaus, nehme ich an. Aber gelebt hat Herr P. immer in unserer Straße. Erst im Nachbarhaus, dann kurz gegenüber, als nach dem Krieg alles zerbombt war. Dann in unserem Haus. Seit mehr als 60 Jahren in unserem Haus. Einmal frage ich ihn nach alten Fotos, eine Chance witternd, in seine 2-Zimmer-Wohnung im vierten OG eindringen zu dürfen. Er schnappt nicht nach dem Köder.

Keinesfalls soll hier der Eindruck entstehen, dass Herr P. irgendwie provinziell oder weltfremd ist. Neulich erzählt er mir beispielsweise von seinen zahlreichen Rundreisen durch Spanien. „Die Spanier wissen, wie man lebt.“ Ich denke an seinen Einkaufskorb und werde ganz traurig. Ob er wisse, dass mein Mann Spanier sei, der Brummbär quasi Halbspanier,  frage ich. „Mmmh,“ erwidert er unverbindlich. Mein Leben interessiert ihn nicht sonderlich. Er will lieber weiter erzählen. Soll er! Herr P. darf bei mir erzählen, ich habe ja Zeit. Noch. Bis die Arbeit wieder beginnt, sollte ich entschieden haben, ob ich weitere Annäherungsversuche wage. Ob ich mich einmische bei Herrn P. . Vielleicht bringe ich ihm eine spanische Wurst, handgemacht von der Mutter des Manns. Oder einen halben Schinken. Derlei Dinge treffen bei uns ja regelmäßig ein, auf dem Postweg oder im Koffer der angereisten Verwandtschaft. Ich kann es ihm ja vor die Tür legen mit einem Zettel und dann reden wir nie darüber.

Oft denke ich daran, was Herr P. alles gesehen haben muss in seinen 60 Jahren in diesem Haus – nach Feierabend im Kaufhaus der Werktätigen und am Wochenende. Wie viele zuversichtliche Studierende, die im Hof saufen und sich dabei so originell fühlen? Wie viele kabbelnde Katzen? Wie viele Babies? Kein Wunder, dass Herr P. sich bei seiner Briefmarkenschatzsuche nicht auf die blauen Tonnen beschränkt  – er kennt die menschliche Natur. Was er wohl gedacht hat, als die vielen verschiedenfarbigen Container plötzlich im Hof standen? In meiner Fantasie war es: „Das setzt sich nicht durch.“

Neulich der Gedanke: Was wohl mit Herrn P.s Briefmarkensammlung passiert, wenn er stirbt? Schlimm, die Vorstellung, dass ein gedankenloser Wohnungsauflöser sie einfach in den Müll wirft, unten im Hof. Und niemand sie herausholt. Ich nehme mir vor, wachsam zu sein und sie herauszuholen. Egal, aus welchem Container.