Ich bin Anfang 20, als ich 2004 zum ersten Mal nach Israel fliege. Ein Austausch, organisiert von meinem Vater. Vor dem Abflug Gebet in der Kirche, der Bus steht schon mit offenen Türen auf dem Gemeindeparkplatz. Am Tag des Rückflugs plötzlich ein Alarm auf dem Flughafen Ben Gurion. Lautsprecherdurchsagen auf Hebräisch. Menschen, die in Panik rausrennen. Dann Entwarnung. Mir zittrigen Händen zeige ich die Pässe der Reisegruppe, übersetze wie in Trance. Zwei Flüge und einer lange Busfahrt später erreichen wir unsere Stadt und aus dem Schreck ist schon eine story geworden. Der Bus parkt, als wäre nichts gewesen. Als wir aussteigen, beginnen plötzlich die Glocken zu läuten. Sie läuten über den verlassenen Kirchplatz, vibrieren durch menschenleere Straßen. Glocken in einer leeren Kirche – sie läuten nur für uns. Für das, was wir erlebt haben. Dafür, dass wir leben. Nie werde ich diesen Moment vergessen. Die Erleichterung, die Freude: Alles ist gut gegangen. Die neu geweckte Lust auf Abenteuer: Was würde mein Leben mir bringen? Die Zuversicht der Jugend: eine wahnsinnige Menge, und zwar frei Haus.
Seit der verfrühten Geburt meiner Tochter zwei Monate vor Beginn der sogenannten Corona-Krise wasche ich mir pausenlos die Hände. Wer zwei Kinder wickelt, kommt auch ohne Kontakt zur Außenwelt auf eine ganz schöne Anzahl. Ich wasche brav 30 Sekunden lang und weil ich nicht gern happy birthday singe, gönne ich in diesen kleinen Pausen lieber ein Gedankennachhängen. In 30 Sekunden kann man so einiges denken, oder andenken und dann wegpacken fürs spätere Weiternachhängen.
- Mag eigentlich irgendjemand Hirse oder ist das nur so ein Ding, wo sich keiner traut was zu sagen? Wie meine Mutter, die eine Zeit lang zu jeder Gelegenheit losen Tee und diese furchtbaren Dekokerzen im Glas geschenkt bekam. Sie hatte den Moment verpasst zu sagen, dass sie sich weder Tee noch Kerzen als Teil ihres Alltags wünschte – und weil der Kram höflich überall herumstand, dachte jede: Hey, Ulla ist doch so ein Fan von Tee und Kerzen im Glas.
- Skandinavien alleine hat zu viele Reiseländer, als dass ich sie je alle sehen werde. Wahrscheinlich. Kann das wirklich sein, dass Leute sterben, dass ich sterben werde, ohne die Nordlichter gesehen zu haben?
- Wieso rühren mich Publikumsmassen bei Konzerten im youtube Video zu Tränen, aber im echten Leben würde ich niemals auf ein Konzert gehen, weil da so viele Leute sind?
- Wenn ich einmal alles addieren würde, was ich laut diversen Ratgebern täglich machen sollte – Zupfmassage gegen Cellulite, 100 Bürstenstriche, Arbeit, Rückengymnastik, lesen, frisch kochen, mit Kindern reden, Meditation, mit Familie telefonieren, einfach mal nichts tun, vorlesen, Sport, Zeitung lesen………………………………………) käme ich dann auf mehr als 24 Stunden? Und werde ich je die Zeit haben, das zu recherchieren?
- Wenn alle Erwachsenen wissen, dass wir nur einmal leben, warum bleiben dann alle so ruhig? Was ist das für ein Moment, in dem sich der Schalte umlegt und von dem an wir nur noch 10 Prozent des Möglichen ins Betracht ziehen? Ist er der, in dem wir erfahren, was Dinge kosten?
Nach dem Händewaschen mehr Fragen als Antworten. Mehr Sorge als Sicherheit. Sowieso quälen ich mich dieser Tage Fragen und Sorgen.
Seit vier Wochen lebe ich ein Klischee – und meinen persönlichen Alptraum: Ich bin stay-at-home-Mom zweier Kinder. Und all die Schrullen, die ich seit meiner ersten Elternzeit nicht mehr loswerde, verstärken sich ins Unendliche. Ich backe ununterbrochen – und dann auch noch mit Dinkelvollkornmehl. Ich plane schon morgens um acht, wann Abendbrot gegessen wird. Ich esse Abendbrot, und zwar richtig gut deutsch um 18 Uhr: Gewürzgurken. Käse auf einem schönen Brett angerichtet. Möhre angeschrägt. Ich ertappe mich dabei, Phrasen zu benutzen, die ich von der Generation meiner Eltern kenne. “Sind sie nicht süß, wenn sie schlafen?” zum Mann. “Haben wir es gut” zum Kind beim Essen. “Alter Schwede,” zu Freunden in WhatsApp Sprachnachrichten. Ich habe mehr Ideen, Vorhaben, Projekte als je zuvor – und keine Zeit, sie in die Tat umzusetzen. Ich bin eine Macherin ohne die Macht zu machen, ein Oktopus in Handschellen. Alles, was ich mache sind Knete, Fingerfarbe, Stress, mir ein schlechtes Gewissen.
Am Gründonnerstag gehe ich abends zum Supermarkt. Tagelange Vorfreude. Ich gehe alleine, so der Plan, wenn die Kinder schlafen. Ich werde auf dem Hinweg Musik hören oder einen Podcast. Und nichts mit Kindern. Ich werde mir eine Weglimo oder ein Wegbier kaufen (alkoholfrei) und auf dem Heimweg die Vögel singen hören. Als es soweit ist, beschließt das Tochterkind mit weit aufgerissenen blauen Augen, dass es auch mal vor die Tür muss. Also nur Vögel, von mir aus. Entgegen meiner naiven Hoffnung ist es nicht leer im Supermarkt um 20 Uhr am Gründonnerstag. Vor der Tür eine Schlange, ein grimmiger Security-Mann genießt sichtlich seine Macht. Alle tragen Masken, ich schäme mich, dass ich keine habe, das Baby ist ebenfalls maskenlos. Drinnen gespannte Stimmung. Keiner rennt aber alle wirken so, als würden sie gern. Das Gemüseregal leer, Toast auch aus. Eier stehen zum Glück schon daheim im Kühlschrank, mit Paketband verschnürt wegen Schlafmangel. Ich merke, wie die Stimmung mir so ganz ohne The Comedy Central Roast of James Franco auf den Ohren unter die Haut kriecht. Auf einmal frage ich mich, ob es jetzt fahrlässig ist, ein Baby mit zum Einkaufen zu nehmen. Die leeren Regale machen mich nervös. Ich bin ja bekennende Hypochonderin und das gilt offenbar auch für drohendes Abgehängtwerden bei der Bevorratung. Jedenfalls gibt es kein Mehl mehr, nicht mal Dinkelvollkorn, und eine Welt, in der es kein Mehl zu kaufen gibt, macht mich unruhig – egal wie viele aus Mehl hergestellte Waren noch im Regal liegen. Das ist ja alles wirklich echt. Das ist ja alles doch recht verstörend.
Ich atme im wahrsten Sinne des Wortes auf, als wir aus dem Supermarkt auf die Straße treten. Und dann, im selben Moment, ganz ungelogen, beginnen die Glocken meiner Berliner Kirche zu läuten. Sie steht die Straße hoch, eine große alte leere Kirche neben einem kleinen alten leeren Kino. Ihre Türme sind riesig und aus unerklärlichen Gründen direkt an Mietshäuser gebaut. Ich komme nicht mehr oft her, was aber okay ist, denn ich habe Kinder. Mein Sohn wurde hier getauft und in der Woche vor dem Tod meiner Mutter habe ich hier einen kleinen weißen Zettel in den Fürbittenkasten geworfen: “Bitte beten Sie für meine Mutter, ich glaube, sie liegt im Sterben.”
Damals war mein Sohn drei Monate, so alt wie heute meine Tochter und ich war genauso abgekämpft – ganz ohne Corona. Persönlich habe ich den Eindruck, dass die aktuelle Situation in Familien nur das verstärkt, das sowieso schon viele herausfordert. Soziale Isolation, ein Gefühl der Ohnmacht ob der unsicheren Zukunft. Sorge, Hoffnung. Lagerkoller. Und eine Verstärkung von Privilegien oder deren Abwesenheit. Plötzlich macht es einen riesigen Unterschied, ob ein Auto da ist oder gar ein Garten. Aber klar, es ist eine harte Zeit, weil etwas fehlt, dass gerade Mütter gut gebrauchen können: Austausch und Solidarität. So empfinde ich es jedenfalls. Einmal treffe ich morgens im Park eine andere Mutter mit ihrem Sohn, wir kennen uns aus der Babymassage. Beide haben wir die Bälger dabei, morgens früh, wenn nur die alten grummigen Männer mit ihren Hunden unterwegs sind. Ich erzähle vom Baby. Von der Eifersucht des Brummbären, vom In-der-Mitte-durchgerissen-werden, jeden Tag. “Ich kann dir E. ja mal abnehmen,” sagt sie. Und dann: “Ach ne, geht ja nicht.” Aber auch theoretische Solidarität nehme ich dieser Tage, und zwar gern. Der Rest des Tages ist irgendwie leicht zu ertragen nach diesem kurzen Gespräch über Bänke hinweg.
Manchmal frage ich mich, ob es allen Frauen so schwer fällt, sich gegen das Muttersein selbstzuverteidigen oder ob es familiär bedingt ist. Meine Schwester beneidet die Leute im Corona-Hotel auf Teneriffa und ich halte mir ständig die Ohren zu und singe Neil Youngs “Heart of Gold”, um nicht laut zu schreien. Man kann nämlich nicht “Heart of Gold” singen und dabei aggressiv sein. Leider schreie ich trotzdem, die Wand an und manchmal auch das Kind. Wenn es dann abends schläft, winzig unter seiner großen Decke, schäme ich mich.
Und dann, wenn ich mich das frage, denke ich oft, dass das, was ich sein soll und auch sein will, gar nicht geht. Und dass ich das schon längst weiß – und auch sonst jeder. Arbeitende Mutter zweier Kinder mit ETF Sparplan und funktionierender Beziehung (Liebe ist Arbeit, Arbeit, Arbeit). Ich versuche es ja und ich putze nicht und ich will mir ja auch die Care-Arbeit aufteilen aber irgendwie will ich mich auch immer kümmern und dass es allen so gut geht wie es nur geht und das macht mich müde und mürbe und ein schüchternes Stimmchen in mir drin sagt mir, dass das mit dem Kümmern nicht meine Schuld ist. Man nennt es Sozialisation. Und dann denke ich, dass ich das mal reflektieren muss und auch sein lassen, aber heute nicht, denn ich bin müde und schaue lieber noch eine Folge von irgendwas und ab ins Bett mit Harry Potter Hörbuch. Morgen kümmere ich mich darum, bestimmt.
Ich stehe also vor dem Supermarkt mit dem Baby vor dem Bauch und dem Einkauf in den Händen und die Glocken läuten. Glocken in einer leeren Kirche – sie läuten für eine verunsicherte Stadt und gleichzeitig nur für mich allein. Und ich breche in Tränen aus, an der roten Ampel vor dem Rewe, umgeben von Maskierten. Das letzte Mal, als ich diese Glocken gehört habe, war ich mit dem Brummbären unterwegs zur Kita – vier Wochen nach der Geburt seiner Schwester. Es waren vier harte Wochen, das Baby zu früh auf der Welt, der Sohn krank und eifersüchtig, schon damals haltlos, kitalos. Meine Tage eine einzige quälende Aneinanderreihung von Reaktionen auf unbeherrschbare Situationen und dem Desinfizieren diverser Körperregionen. Dann ist eines Nachts der Sohn wieder gesund aber der Mann krank (Corona?) und ich bringe den Brummbären auf dem Fahrrad zum Kinderladen. Acht Uhr, die Glocken läuten genau in dem Moment, in dem wir vorbeiradeln. Und ich merke, wie mein Herz überläuft, als mein Sohn aus voller Kehle und vollem Glück “Guten Morgen Glocken” schreit. Unser Ritual, aus der Zeit “pre Baby”. Ich weine auch an diesem Tag – vor Erleichterung, vor Hoffnung – und trete in die Pedalen. “Wir schaffen das,” schreie ich in die schreienden Glocken. “Es wird schon alles irgendwie.” In Kreuzberg geht das, interessiert keine Sau.
Jetzt weine ich halt vor dem Supermarkt und eine Oma neben mir (1,5 m neben mir, um genau zu sein) lächelt mir aufmunternd zu. “Wird schon,” sagt sie und ich lächle zurück aber mein Lächeln ist gelogen, denn ich weine nicht aus Angst vor Corona und deshalb wird es so schnell wohl auch nicht. Ich weine auch nicht, weil ich keine anderen Mütter treffen darf ohne Bänke zwischen uns oder weil wir nicht nach Spanien fliegen konnten oder weil mein Kind sein erstes bewusstes Ostern ohne Osterdeko verbringen muss, weil seine Mama es nicht übers Herz bringt, die gerade zum Leben erwachenden Zweige abzuschneiden.
Ich weine, weil ich tief in mir drin weiß, dass ich gar nicht gerne backe. Weil ich weiß, dass ich nicht nur wegen Corona zu oft mein Kind anschreie. Dass ich nicht nur wegen meinem Kind nicht mehr in die Kirche gehe. Ich weine, weil die Glocken einen verletzten, notdürftig verbundenen Punkt in mir drin berühren, und das tut weh. Es ist der gleiche Schmerz, den ich spüre, wenn ich Butterblumen oder Schafsgarbe sehe. Wenn ich im Morgengrauen Tauben höre. Wenn ich Feuer rieche oder sun blocker, der nach Sonnenmilch riecht. Wenn ich mich daran erinnere, wie es war, als alles noch möglich war. Auf dem Kirchplatz, eine abenteuerliche Reise im Nacken (Kribbeln) und die Glocken läuten und – was wird als nächstes passieren? Ich stehe an der Ampel, die schon zwei Mal grün war, und frage mich, warum eigentlich so wenig passiert ist seither und warum ich kein Auto mehr fahre und warum ich nicht im Chor singe und warum ich immer noch denke, ich hätte Zeit.
Nein, die Glocken bringen mich nicht zum Weinen, weil ich Angst habe, dass ich sterbe. Ich weine, weil ich Angst habe, dass ich nicht lebe. Dass ich zu selten zelten, zu viel backen und nie die Nordlichter sehen werde. Zu wenig Wald, zu viele Muffins. Wie die 24-jährige Rebekka auf dem Kirchplatz warte ich gespannt, was das Leben mir servieren wird und wann endlich und wer kümmert sich darum? Aber das muss ich tun. Dieses Kümmern muss tatsächlich ich übernehmen. Diese Selfcare Arbeit muss und soll und darf bei mir liegen.
An diesem Abend befülle ich im dunklen Spielzimmer die Osterkörbe für mich, den Mann und das Kind. Habe ich jemals an den Osterhasen geglaubt? Ich glaube nicht. Ich glaube, ich wusste immer, dass es meine Mutter war, im Keller, an der riesigen Tiefkühltruhe, die die Eier, den Fondant, die Hasen zuteilte. Und es war schön, dass sie es war. Ob sie auch dabei an alles gedacht hat, was sie nicht schafft – die eigenen Projekte, Träume, Ambitionen? Bücher die sie lesen will? Reisen, ohne die sie nicht sterben will? Ich befürchte es.
Bald werde ich sie wieder hören, die Glocken der leeren Kirche. Ich will nicht wieder weinen. Ich will voller Hoffnung sein, wenn sie läuten. Ich will, dass die Glocken für mich Glocken des Triumphs sind, zumindest des Trotzes. Wir werden es irgendwie schaffen und ich werde es irgendwie schaffen. Zu leben in vollen Zügen. Den Anfang mache ich jetzt, trotz Corona oder deswegen: Ich frische jetzt endlich meinen Führerschein auf, und dann kaufe ich vielleicht sogar ein Auto und dann fahre ich zelten. Wenn alles vorbei ist. Wenn alles anfängt.